Verdacht auf Missstände an Staatlicher Ballettschule - "Es gibt eine Grenze zwischen Härte und Unmenschlichkeit"

Jahrelang sollen Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Ballettschule Berlin gelitten haben: 13-Stunden-Tage, harter Drill, Bodyshaming, Magersucht - bis Mitarbeiter revoltierten. Jetzt soll eine Kommission die Vorwürfe aufklären. Von Tina Friedrich und Torsten Mandalka
Am schlimmsten war es, während der Proben krank zu werden, beschreibt Sophie* den enormen Druck, den sie an der Staatlichen Ballettschule Berlin erlebt hat. "Jeder wusste: Wenn ich verletzt bin, gibt es sofort jemanden, der mich ersetzt. Wer nicht mehr funktionierte, wurde einfach ausgetauscht. Wir wurden behandelt wie Maschinen." Der Weg zurück auf die Bühne sei gnadenlos gewesen. "Man musste warten, bis eine andere krank wird, die man dann ersetzen kann."
Bei der Erinnerung an ihre Schulzeit kommen Sophie immer wieder die Tränen. Der extrem hohe Druck, perfekt zu sein. Die demütigenden Bemerkungen über ihren Körper. Die Mädchen, denen sie beim Essen half, weil die Schule leugnete, dass es Essstörungen überhaupt gab. Die Bulimie, die sie selbst im Lauf der Zeit entwickelte. Damals träumte sie noch von einem Leben als Ballerina. Heute würde sie jungen Mädchen davon abraten. "Ich verstehe jetzt erst, wo ich wirklich raus bin aus dieser Welt, wie wir uns kaputt gemacht haben, auch ausgenutzt wurden, und keiner darauf geachtet hat", sagt sie.
Schatten hinter der elitären Fassade
Die Staatliche Ballettschule und Schule für Artistik (SBB) ist eine Eliteschule und in gewisser Weise auch ein Leistungssportzentrum. Etwa 300 Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis 19 Jahren lernen hier. Sie können nicht nur die Berufsausbildung zum Bühnentänzer oder Artisten machen, sondern auch Abitur und einen Bachelorabschluss. Viele kommen aus Übersee, leben in Berlin fernab des Elternhauses im Internat – alles für ihren Traum von einem Leben als Primaballerina, als Startänzer, Künstlerin oder Artist. Ihre Absolventinnen und Absolventen tanzen auf den ganz großen Bühnen der Welt: London, New York, Moskau.
Doch das hervorragende Image der Schule soll aufbauen auf dem autoritären Führungsstil ihres Leiters Ralf Stabel, der jede Kritik an den Vorgängen hinter der glänzenden Fassade zu unterdrücken versuchen soll. rbb24 Recherche hat dazu wochenlang recherchiert, mit Menschen in und außerhalb der Schule gesprochen. Sie berichten von Drill, Leistungsdruck, unverhältnismäßigen Lehrmethoden, möglicherweise Verstößen gegen Jugendschutzregeln. Stabel äußerte sich gegenüber rbb24 Recherche nicht zu den Vorwürfen und verwies auf die Senatsschulverwaltung. Unlängst kam es an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper zu ähnlichen Vorwürfen, nach einer Untersuchung wurde dort die Schulleitung abgelöst.

Auftritte auch in den Ferien
Katja Will hat bis vor kurzem an der Ballettschule unterrichtet. Sie weiß, wie lang die Arbeitstage der Schülerinnen und Schüler werden können. Der Schulunterricht beginnt morgens um 7:50 Uhr, nachmittags und abends gibt es Tanzunterricht, Gymnastikeinheiten und Proben. Wenn sie dann abends noch auf der Bühne stehen, dauert der Arbeitstag schon mal gut 13 Stunden.
Vor zwei Jahren wurde zusätzlich das Landesjugendballett als Ballettkompanie und Teil der Staatlichen Ballettschule gegründet. Die Schülerinnen und Schüler sollten auf diesem Weg Aufführungserfahrung zusätzlich zu den Trainings im Rahmen ihrer Ausbildung sammeln. Die Auftritte finden auch in den Ferien statt. In den Weihnachtsferien 2019 gab es zehn Vorstellungen – nach Angabe der Schulverwaltung haben die Schüler nur mit Einwilligung der Eltern mitgewirkt. Katja Will sieht dennoch die Schule in der Pflicht, stärker auf ausreichende Erholung der Kinder zu achten. "Wir haben eine Fürsorgepflicht den Kindern gegenüber", sagt Katja Will. "Sie können nicht einschätzen, ob sie die Ferien brauchen oder nicht. Das können nur wir als Erwachsene, und da müssen wir ganz klar sagen: nein, du hast da Ferien."
Keine Rücksicht auf Ruhezeiten
Doch nicht nur Erholungszeiten sollen regelmäßig vernachlässigt werden, wirft Lydia Marquardt*, eine Mitarbeiterin der Schule, der Schulleitung vor. So soll es intern Vorwürfe geben, dass einige Jugendliche bis spätabends aufgetreten seien, obwohl das Jugendschutzgesetz regelt, dass Minderjährige nur bis höchstens 23 Uhr auf der Bühne stehen dürfen.
Auch Freizeitphasen von mindestens 12 Stunden zwischen einem Auftritt und dem nächsten Schulunterricht sind dort vorgeschrieben. Das werde häufig nicht beachtet, kritisiert die Mitarbeiterin. In der Hausordnung der SBB ist nach Angaben der Schulverwaltung vorgeschrieben, dass an Tagen mit Aufführungen verkürzt unterrichtet wird, sowie am Tag danach der Unterricht später beginnen muss, etwa wenn Aufführungen um 22 Uhr beendet werden.
Körperliche Gewalt im Training
Die Erschöpfung und der Leistungsdruck schlagen sich in Statistiken nieder, ist Katja Will überzeugt. "Es gibt definitiv mehr Verletzungen als früher, mehr physiotherapeutische Behandlungen werden notwendig und auch psychisch ist der Druck für die Schüler hart, immer perfekt sein zu wollen und zu müssen, funktionieren zu müssen, bloß nicht krank sein zu dürfen." Das sei auch mit dem Argument, in einer Eliteschule für Leistungssport seien die Anforderungen eben hoch, nicht mehr zu rechtfertigen, kritisiert die Pädagogin.
Die Zahl der physiotherapeutischen Behandlungen sei in den vergangenen zwei Jahren deutlich angestiegen. Die Schulverwaltung bestätigt den Anstieg der Behandlungen. Dieser sei aber nicht auf den Anstieg von Verletzungen der Schülerinnen und Schüler zurückzuführen, sondern damit begründet, dass eine neue Kollegin mit mehr Kompetenzen mehr und andere Behandlungsmöglichkeiten anbieten kann, was auch in Anspruch genommen werde.
In einigen Fällen sollen Kinder auch krank oder verletzt getanzt haben, obwohl ärztliche Diagnosen und Empfehlungen klar davon abgeraten haben sollen. Auch solche Fälle seien der Schulleitung nicht bekannt, sagt die Senatsverwaltung – und fügt hinzu: "Es besteht Konsens darüber, dass [ein Auftritt] unter solchen Bedingungen nicht erfolgen darf. Tanzpädagoginnen oder Tanzpädagogen, die dies forderten, würden ihre Fürsorgepflicht grob verletzen und es wäre mit dienstrechtlichen Konsequenzen zu rechnen."
Zuweilen sei es im Training auch schon mal härter zugegangen, sagt Sophie. "Das war zum Beispiel Schläge auf den Oberschenkel, damit man die Muskeln anspannt." Pädagoginnen hätten manchmal auch Fingernägel zwischen Schulter und Schlüsselbein gebohrt, damit sie ihre Schultern senkt, erzählt sie. Die Schulleitung habe keine Meldungen über solche Fälle erhalten, sagt die Senatsschulverwaltung auf Anfrage von rbb24 Recherche.

Hoher Druck, abzunehmen
Für die Benotung sei das äußere Erscheinungsbild der Mädchen wesentlich – und nicht nur Faktoren wie das Gewicht, schildert Sophie ihre eigene Erfahrung bei einer Tanzprüfung. "Die Trainingskleidung war einheitlich gestaltet, aber manche Mädchen hatten eben etwas mehr Oberweite. Mir passte die Kleidung einfach nicht. Und dann bekam ich bei der Auswertung die Rückmeldung, ich würde eine schlechtere Note bekommen, weil ich sexuell anzüglich gewirkt hätte." Der Schulleitung sei dieser Fall nicht bekannt – heißt es aus der Senatsverwaltung. Das Körpergewicht sei kein Bewertungskriterium.
Der Druck, abzunehmen, sei jedoch enorm gewesen, erinnert sich auch Sophie. "Manche Lehrer haben uns dann zum Beispiel gesagt, dass wir kein Abendbrot essen sollen – eine Woche lang. Da versteht man sehr schnell, dass man abnehmen sollte", sagt sie. Auch Sätze wie: "Du bist zu fett, was machst du eigentlich hier", sollen Lehrer im Training gesagt haben. Dass es in diesem Zusammenhang gerade bei den Mädchen häufiger zu Essstörungen kommt, kann eine Folge des Drucks sein.
Sophie kannte nach einiger Zeit die Anzeichen. "Man interessiert sich nur noch für das Ballett, denn dafür nimmt man ja ab." Einige wurden magersüchtig und aßen grundsätzlich sehr wenig. Andere entwickelten eine Bulimie. "Dabei isst man stetig entweder nichts oder nur höchstens 100 Kalorien am Tag. Dadurch bekommt man irgendwann Fressattacken, erbricht sich und bestraft sich dadurch, dass man dann wieder tagelang nichts zu sich nimmt außer Wasser und Kaffee." Auch Sophie hat eine solche Essstörung entwickelt. "Man will es nicht wahrhaben, denn man tut es ja für das, was man liebt."
Die Mangelernährung im Teenageralter führte bei ihr dazu, dass sie heute mit Anfang 20 bereits unter Arthrose leidet.
Mädchen fühlen sich zu wenig unterstützt
Hilfe seitens der Schule soll es für die betroffenen Mädchen nach übereinstimmenden Aussagen kaum gegeben haben. "Wir durften so lange nicht am Training teilnehmen, bis wir vier Kilo zugenommen hatten. Dann hat man also mit einer Fressattacke vier Kilo zugenommen und später wieder abgenommen. Das ist keine Hilfestellung", sagt Sophie. Die Schülerinnen hätten sich untereinander versucht zu helfen, zum Beispiel gemeinsam zu essen. "Von den Autoritätspersonen kam da leider sehr wenig."
Allerdings habe es auch Ausnahmen gegeben, Lehrer, die wirklich helfen wollten, sagt Sophie. "Doch die hatten dann nicht die nötige Ausbildung, um psychisch kranke, essgestörte Mädchen zu behandeln. Man wurde da ein bisschen alleine gelassen."
"Ich weiß, dass das Thema Essstörungen ein ganz, ganz großes Reizthema ist", sagt Lydia Marquardt. Von oben gäbe es dazu eine ganz klare Haltung: "Es gibt keine Essstörungen. Das Thema ist nicht existent." Dass Ernährungsberatung bisher kein festgeschriebener Bestandteil der Ausbildung gewesen sei, bestätigt auch die Senatsschulverwaltung – es habe allerdings Beratung gegeben, zwei Ärztinnen hätten regelmäßig Sprechstunden angeboten. In Zukunft jedenfalls werde das Thema eine "herausgehobene Stellung" haben. Ernährungslehre sei seit dem laufenden Schuljahr im Stundenplan verankert. Vereinzelte Fälle von Magersucht und Bulimie seien in der Vergangenheit intensiv medizinisch und psychologisch betreut und behandelt worden. Die Senatsverwaltung nehme solche Fälle "sehr ernst".
Mangelnde Kommunikationskultur
In den Leitsätzen der Schule steht, dass die Ballettschule soziale Kompetenz vermitteln soll, in einem vertrauensvollen Arbeitsklima mit kollegialer Kommunikationskultur. Davon kann nach Meinung von Lydia Marquardt keine Rede sein. Sie arbeitet nach wie vor an der Schule. Wer Probleme anspreche, bekomme von Schulleiter Ralf Stabel oft die gleiche Antwort: Dass es keine Probleme oder Konflikte an der Schule gebe, auch keine Essstörungen. Aussagen wie diese zitieren alle, mit denen rbb24 Recherche im Laufe der Nachforschungen sprechen konnte.
Darüber hinaus habe er Methoden entwickelt, seine Kritiker mundtot zu machen. Katja Will spricht von "subtilen Möglichkeiten", mit denen er klargemacht haben soll, dass Widerspuch nicht erwünscht sei. Ihr selbst sei beispielsweise die Verantwortung für bestimmte Proben entzogen worden. Es sei auch vorgekommen, "dass derjenige, der den Konflikt aus Sicht der Schulleitung verursacht hat, nämlich der Mitarbeiter, unter Umständen einen schlechteren Stundenplan bekommen hat." Auch die Verantwortung für bestimmte Proben soll er kritischen Lehrkräften beispielsweise entzogen haben. Die Schulleitung streitet das über die Senatsverwaltung ab: Stunden- und Ablaufpläne seien hochkomplex - man habe bei der Probenzuteilung nur auf zeitliche Wünsche von Pädagoginnen reagiert.
Das Kollegium rebelliert
Doch die kritischen Stimmen werden lauter. Im Dezember schlossen sich rund 60 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus allen Bereichen der Staatlichen Ballettschule und der Schule für Artistik zusammen und verfassten einen "Antrag auf Gewährleistung der Fürsorgepflicht". Darin formulierten sie die Kritik, die Stabel aus ihrer Sicht seit Jahren nicht hören will: Die Arbeitsbelastung sei zu hoch, es fehlten Konzepte für den Gesundheitsschutz. Stattdessen herrsche eine "Kultur der Angst". "Unter den gegebenen Bedingungen ist der Schutz der Schüler*innen nicht gewährleistet", heißt es abschließend. Rund zwei Drittel des Kollegiums – unterzeichneten den Antrag.
Jetzt werden Veränderungen in Gang gesetzt. Eine Gesamtkonferenz wurde anberaumt und mithilfe externer Moderation Aussprachen zwischen Schulleitung und Beschäftigten in Angriff genommen. Im Januar wurde ein Sportpsychologe eingestellt, das Schutzkonzept für den Umgang mit und die Prävention von sexueller Belästigung soll überarbeitet werden. Bezogen auf drillartige Unterrichtsmethoden seien die Lehrkräfte für Bühnentanz in diesem Jahr noch einmal sensibilisiert worden, besonders achtsam zu sein.
Keine Stellungnahme der Schulleitung
rbb24 Recherche hat den Schulleiter Ralf Stabel ebenso wie den Leiter des Landesjugendballetts mit allen Vorwürfen konfrontiert und um eine ausführliche Stellungnahme gebeten. Beide äußerten sich nicht, sondern verwiesen an die Senatsverwaltung für Bildung, die oberste Aufsichtsbehörde der Staatlichen Ballettschule.
Dieser liegt der Antrag zur Gewährleistung der Fürsorgepflicht ebenso vor wie ergänzende Dokumente, die die Vorwürfe detailliert beschreiben. Die Bildungsverwaltung nehme die Vorwürfe "sehr ernst", sagte Staatssekretärin Beate Stoffers dem rbb. Allen Vorwürfen, auch dienstrechtlicher Natur, würde in jedem Fall nachgegangen werden.
Stoffers betont jedoch auch, die Vorwürfe seien dem Senat gegenüber zwar schon im September 2019 erhoben worden, bislang jedoch allesamt anonym. Konkrete Anzeigen lägen nicht vor. Deshalb hätten die Schule und die Beschuldigten Anzeige wegen Verleumdung und übler Nachrede erstattet.
Bildungsverwaltung setzt Kommission ein
Doch sie kündigte auch sofortige Konsequenzen an. "Wir werden eine Kommission einrichten aus mindestens sieben Experten aus verschiedenen Bereichen, um alle Vorwürfe, die hier im Raum stehen, zeitnah aufzuklären." Die Kommission soll auch bisher unbestätigten Gerüchten nachgehen, wonach es zu sexuellen Übergriffen durch eine Lehrkraft gekommen sei, sowie sich mit den Vorwürfen befassen, Kinder würden verletzt tanzen. Vorsitzen wird der Kommission die ehemalige Ballettschulleiterin Hannelore Trageser.
Die Kommission werde unabhängig von der Schule im Auftrag der Bildungssenatorin Handlungsempfehlungen erarbeiten, die auch strukturelle Veränderungen bedeuten können. "Wir sehen generell bezüglich der Schülergesundheit eine hohe Verantwortung bei der Schulleitung, aber selbstverständlich auch bei den Lehrkräften und bei uns, bei der Schulaufsicht." Elite bedeute nicht, dass man bestimmte Grundregeln nicht einzuhalten habe. Belastungen müssten erträglich sein.
Für Sophie waren die Belastungen irgendwann unerträglich. Sie hat sich gegen eine Karriere als Tänzerin entschieden. "Die Staatliche Ballettschule ist zwar eine Eliteschule, aber es wird schnell vergessen, dass es Kinder sind, die dort ausgebildet werden. Ja, es ist hart, das stimmt. Aber es gibt eine Grenze zwischen Härte und Unmenschlichkeit, und die muss auf jeden Fall gewahrt werden."
Sendung: Abendschau, 23.01.2020, 19:30 Uhr
*Name von der Redaktion geändert