Unfall-Hotspot Schlesisches Tor - "Jeder Fehler wird mit einem Unfall bestraft"
Die Kreuzung Schlesisches Tor ist eine der gefährlichsten Verkehrsknotenpunkte in Berlin. Ständig kracht es dort. Woran liegt das? Wie kann es gelingen, die Kreuzung sicherer zu machen und die Unfallzahlen zu senken? Ein Ortsbesuch von Thomas Rautenberg
Ich sitze auf dem Beifahrersitz neben Leszek Nadolski. Seit 30 Jahren ist er mit seinem Taxi in Berlin unterwegs – mitten im Großstadtverkehr, im täglichen Wahnsinn, wie er es nennt. Die Kreuzung am Schlesischen Tor ist selbst für einen versierten Fahrer wie ihn purer Stress: "Sie fahren immer am Limit. Man muss bei einem solchen Verkehrsverhältnis enorm aufpassen. Da sind die Fußgänger, die Radfahrer – und sie dürfen sich keinen Fehler leisten. Jeder Fehler wird mit einem Unfall bestraft."
"Die Spurführung ist schon schmal"
Die Autos am Schlesischen Tor kommen von allen Seiten. Dazwischen versperrt der Viadukt der U1 die Sicht. Oben rattert die gelbe Bahn mit ohrenbetäubendem Lärm vorbei. Und als ob das nicht reicht, fahren auch noch diverse Radfahrer kreuz und quer. Aus dem Augenwinkel sehe ich über einem Blumenladen ein Banner mit der Aufschrift "Overkill". Treffender kann ich meine Gemütsfassung nicht beschreiben. Leszek lenkt sein Taxi durch den dichten Verkehr. Der Spiegelabstand zum Nachbarn: gefühlte zwei Zentimeter. Er blinkt links, macht einen Turnaround und fährt unter der U-Bahn hindurch, zurück zur Kreuzung. Diesmal auf der Oppelner Straße, dorthin, wo es nach seiner Erfahrung ständig kracht, denn "die Spurführung ist schon schmal, kritisch."
"Dass ein Pkw mit einem Lkw kollidiert, erlebe ich sehr oft"
Wir quetschen uns zwischen Autos und Radfahrern hindurch geradeaus in die Oberbaumstraße. Ich steige dort aus, laufe ein Stück zurück und treffe mich am U-Bahneingang Schlesisches Tor mit Katharina König (Name von der Redaktion geändert). Katharina, Anfang 40, wohnt seit 16 Jahren in einem Altbau unmittelbar an der Kreuzung. Von ihrem Balkon habe sie alles im Blick, auch die vielen Unfälle unten auf der Straße, erzählt sie. "Ich schätze drei bis viermal die Woche sehen wir einen Auffahrunfall, wenn ich hier mit meinen Kindern entlang laufe. Personenbeteiligung habe ich noch nie selber miterlebt. Aber dass ein Pkw mit einem Lkw kollidiert, erlebe ich sehr oft."
Beinahe wäre es eben wieder passiert. Ein Lieferwagenfahrer hat bei einem Spurwechsel einen Pkw-Fahrer abgedrängt. Der hupt sich den Weg frei. Einfach nachgeben ist nicht seine Sache. Katharina nimmt es nicht mehr groß wahr, wenn es hupt. Sie hat sich mit dem Trubel vor ihrer Haustür arrangiert. Der Verkehr mache ihr nichts aus, sie lebe gern hier. Doch ihre Verwandten würden schon mit den Augen rollen: "Die finden es einfach nur fürchterlich."
Ehrlich gesagt kann ich Katharinas Verwandte verstehen: Der Krach, die vielen Autos, die Abgase, die durch die Gegend wabern und das ständige Gehupe – für meine Nerven wäre das auf Dauer nichts.
Hier hat es über 360 Mal geknallt
Vom U-Bahnhof aus will ich mir das Ganze nochmal zu Fuß anschauen und gehe die paar Schritte bis zum Döner-Imbiss über die Oppelner Straße, wo ich eben noch mit dem Taxi durchgefahren bin. Eigentlich sieht es hier gar nicht so gefährlich aus. Aber auf diesen wenigen Metern passieren die meisten Unfälle. 424 Karambolagen waren es im Jahr 2017. In den Folgejahren hat es über 360 Mal geknallt. Nirgendwo in Berlin passieren öfter Unfälle.
Was die Kreuzung so gefährlich macht, erläutert mir Andreas Möser, der hier auf mich wartet. Der Polizeihauptkommissar arbeitet bei der Verkehrslenkung in der Polizeidirektion City. Kaum ein anderer kennt die Besonderheiten – um nicht zu sagen die Gemeinheiten – der Kreuzung Schlesisches Tor so gut wie er. "Der wirkliche Hotspot liegt genau in den ersten beiden Fahrstreifen Richtung Oberbaumbrücke", sagt Möser. "Davon ist einer als Rechtsabbieger gekennzeichnet. Das wird ab und zu übersehen. Man versucht, geradeaus zu fahren und hat dann den Konflikt mit dem Fahrzeug, das daneben fährt. Und weil es so eng wird an dieser Stelle, fahren die Kfz-Führenden auf den Radweg auf und missachten den Radfahrer. Auch das ist ein Knackpunkt."
Es ist einfach zu eng
Hauptkommissar Möser hat kaum zu Ende erklärt, da stockt mir der Atem: Fast hätte es wieder geknallt. Ein Rechtsabbieger aus der Oppelner Straße achtet zwar auf die Radfahrer, die er vorbeilassen muss, merkt aber nicht, dass er links über den Trennstrich zur Nachbarspur rollt. Ein Betonmischer, der dort fährt, kann gerade noch bremsen. Es ist eine Sache von wenigen Zentimetern. "Da sehen Sie's, genau so passiert es", sagt Andreas Möser.
Es ist zu eng für die vielen Fahrzeuge, die hier unterwegs sind. Einfach breiter machen kann man die Straße nicht: entweder sind Häuser oder die Pfeiler für die oberirdische U-Bahntrasse im Weg.
Im Jahr 2010 hatte sich die Unfallkommission des Landes die Kreuzung am Schlesischen Tor schon einmal genauer angeschaut. Machen konnten die Unfallexperten und Stadtplaner nur wenig, sagt Möser: "Hier in diesem Eckbereich, wo der Fahrradverkehr zufließt, stand eine Litfasssäule im Sichtbereich der zufahrenden Radfahrenden. Die wurde entfernt. In der Skalitzer Straße wurde ein Verkehrszeichen für eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h aufgestellt. Aber wenn man ehrlich ist, muss man sagen, dass die Kurvenlagen sowieso nicht mehr Geschwindigkeit hergeben. Die Markierungen wurden erneuert, um ein paar Zentimeter verändert. Doch nach meinem Dafürhalten ist das nur eine visuelle Maßnahme."
Weniger Bürgersteig, mehr Platz für die Autos
Mehr Platz für die Autos würde helfen. Doch Straßen zu verbreitern, steht in Berlin derzeit nicht ganz oben auf der Agenda. Dennoch soll die Einmündung der Oppelner in den kommenden Monaten umgebaut und etwas breiter gemacht werden, sagt Möser. Diese 50 Zentimeter gingen zwar zu Lasten des Bürgersteiges. Aber sie könnten die Unfallzahl in diesem Bereich deutlich senken, hofft der Polizeihauptkommissar. Es gehe darum, die Spurenlage so zu gestalten, dass jede Spur durchgängig wenigstens drei Meter habe und sich nicht im Kreuzungsbereich verengen. "Dann bleiben pro Spur auf der Hälfte der Kreuzung nur noch zwei Meter übrig. Damit kann niemand umgehen."
Als ich Katharina König auf den geplanten Umbau an der Oppelner Ecke Schlesische Straße anspreche, verzieht sie nur das Gesicht. Mehr Platz für Autos und weniger für Fußgänger? "Das geht gar nicht", sagt sie. "Bei der Bäckerei nebenan im Späti ist Außenbestuhlung. Wenn da noch mehr Bürgersteig fehlt, kommt man gar nicht mehr durch."
Andererseits geht es auch nicht, dass es durchschnittlich einmal pro Tag auf der Kreuzung Schlesisches Tor kracht. Und die Verkehrsbelastung wird in den kommenden Wochen noch dramatisch steigen, kündigt Andreas Möser an. Denn die Viadukte werden saniert und ersatzweise ein Schienenersatzverkehr eingeführt. "Das wird uns einen Fahrstreifen nehmen, und zwar im ganzen nächsten Jahr wahrscheinlich." Auch die Elsenbrücke werde demnächst neu gebaut, so dass auch dieser Verkehr auf der Skalitzer lande. "Solange das Land nicht mehr Geld in die Hand nimmt und die Verbindungen über die Spree wiederherstellt, die vor dem Krieg waren, werden wir mit dieser Situation leben müssen."
Ich bleibe ratlos an der Kreuzung Schlesisches Tor zurück. Das Gedränge und Gehupe wird auf absehbare Zeit also nicht weniger werden. Und die Kreuzung wird vielleicht nicht DER, aber zumindest EIN Unfall-Hotspot in Berlin bleiben.