Die Metropole mal runtergebrochen - Wenn Berlin ein Dorf mit 100 Einwohnern wäre ...
Während auf dem Dorf jeder jeden kennt, schaffen sich Stadtbewohner gern ihre persönliche Blase. Da pieksen wir rein - und schauen uns die Berliner Nachbarschaft genauer an. Es zeigen sich überraschende Verhältnisse. Von Mitya Churikov (Grafik) und Oliver Noffke (Text)
Wie würde Berlin aussehen, wenn es ein überschaubarer Ort mit lediglich 100 Einwohnern wäre? Wir haben einige Erhebungen und Schätzungen über die Metropole herausgegriffen und auf die Größe eines kleinen Dorfes heruntergebrochen. Die Axt, mit der wir durch den Statistikwald schlagen, ist ungeheuer scharf und ziemlich grob. Summen, die eine fünf hinter dem Komma aufzeigten, haben wir aufgerundet; niedrigere Dezimalstellen genullt.
Da 0,1 Prozentpunkte in Berlin rund 3.700 Menschen repräsentieren, führt unser Vorgehen zwangsläufig auch zu Ergebnissen, bei denen Statistiker nervös an ihren Fingernägeln kauen werden. Wir erheben deshalb keinen Anspruch darauf, dass unsere Darstellungen ein perfektes und repräsentatives Abbild der Bevölkerung darstellen. Dafür ist dieses Gedanken-Dorf mit seinen 100 Einwohnern einfach zu klein. Andererseits verdeutlicht unser zusammengestutztes Berlin überraschende Verhältnisse.
Das metropole Dorf
Zu allererst haben wir versucht zu klären, wie die 100 Berliner denn aussehen. Wie im Rest der Republik leben auch in ihrer größten Stadt etwas mehr Frauen als Männer, gerundet beträgt das Verhältnis ungefähr 51:49.
Auch die Alterstruktur der Berliner ist gut aus öffentlichen Statistiken ablesbar [statistik-berlin-brandenburg.de]. Daraus ergibt sich, dass in unserem fiktiven Dorf 14 Bewohner leben, die jünger als 15 Jahre sind. Es gibt neun Jugendliche und junge Erwachsene im Alter von 15 bis 24 Jahren und 19 Senioren, die mindestens 65 Jahre alt sind. Der Rest bewegt sich dazwischen.
Gern hätten wir gewusst, welche Gotteshäuser in unserem Dorf stehen oder wie hoch der Anteil von Menschen verschiedener Hautfarben ist. Zu beiden Fragen ist die Datenlage jedoch schwammig oder lückenhaft. Verlässliche absolute Zahlen zur Religionszugehörigkeit sind lediglich zu den christlichen Kirchen verfügbar.
Das Amt für Statistik Berlin und Brandenburg hält zur Herkunft grobe Daten bereit. Demnach sind rund 65 Prozent der Berliner Deutsche ohne Migrationshintergrund. 14 Prozent sind Deutsche mit Migrationshintergrund, sie besitzen also einen deutschen Pass, sie oder ihre Eltern wurden aber im Ausland geboren. Rund 21 Prozent der Bevölkerung gibt die Behörde als Ausländer an.
Rückschlüsse auf das Aussehen sind so natürlich nicht seriös möglich. Nicht nur ein Michel kann deutsch sein, sondern auch eine Ayşe. Was wir konkret sagen können, ist, dass 47 Personen in unserem bunten Dorf geboren sind. Der Rest hat sich irgendwann für das Leben hier entschieden.
Mit dem Mikrozensus versucht das Amt für Statistik die wirtschaftliche Lage und gesellschaftliche Struktur in Berlin abzubilden. Der Datensatz wird jährlich aktualisiert, allerdings findet nur alle zehn Jahre eine komplett neue Befragung statt. In den Jahren dazwischen passt die Behörde die Zahlen an, indem verschiedene Faktoren zur Bevölkerungsentwicklung einbezogen werden. Die aktuellste Ausgabe versucht die Zustände im Jahr 2018 abzubilden. Welche Auswirkungen die Corona-Krise auf die Beschäftigung in unserem Dorf haben wird, bleibt abzuwarten.
Berlin wird oft als Hartz-IV-Hauptstadt bezeichnet. Tatsächlich kann ein wesentlicher Teil der Bevölkerung seinen Alltag nur dank der Grundsicherung bestreiten. Betroffen sind alle Altersgruppen.
Wenn es ums Geld geht, bleiben die Deutschen gern schweigsam. Reichtum wird von Statistikern so gut wie nicht erfasst. In Berlin sollen etwa 750 Einkommensmillionäre leben. So werden Menschen mit einem Jahreseinkommen von 500.000 Euro oder mehr bezeichnet. Es sind zu wenige, als dass einer von ihnen in unserem Dorf ein Anwesen hätte.
Greifbarer wird Reichtum, wenn wir nach der Oberschicht fragen: Also jenen zehn Prozent der Bevölkerung, die höhere Einkünfte erzielen als der Rest. Das Insitut der deutschen Wirtschaft (IW) hat Anfang des Jahres ein Tool aktualisiert, das einen Vergleich erlaubt. Für Ostdeutschland hält das Institut folgende Zahlen bereit: Wer mehr als 3.083 Euro netto im Monat zur Verfügung hat und alleinstehend ist, gehört zur Oberschicht; für Paare ohne Kinder liegt der Wert bei 4.127 Euro [iwkoeln.de].
Für Berlin dürfte dieser Wert etwas höher liegen. Denn kein anderes ostdeutsches Bundesland erreicht einen ähnlich hohen Wert beim Kaufkraftindex. In Berlin liegt dieser bei 91,5 - wobei der Wert 100 für den Bundesdurchschnitt steht. Spitzenreiter ist Hamburg mit einem Kaufkraftindex von 109,8.
Nirgendwo in Deutschland gibt es mehr Single-Haushalte als in Berlin. In unserem Dorf würden 30 Menschen allein leben.
Alleinerziehende Eltern machen in Berlin knapp vier Prozent der Bevölkerung aus. Überwiegend handelt es sich dabei um Frauen. Auf einen alleinerziehenden Vater kommen fast sieben alleinerziehende Mütter.
Alkohol ist der legale Rausch, gesellschaftlich akzeptiert und weit verbreitet. Aber nicht für jeden ist Alkohol bloßes Genussmittel. Laut Berliner Suchtprävention zeigen elf Prozent der Bevölkerung ein problematisches Verhalten im Umgang mit Alkohol, sie sind entweder abhängig oder es besteht die Gefahr, dass sie in die Abhängigkeit abrutschen.
Der Lautstärke und Empörung zufolge, mit der auf die drohende Auflösung von Kleingartenanlagen in Berlin reagiert wird, könnte man glauben, es ginge um ein Thema, das breite Schichten anspricht. Tatsächlich sind Kleingartenfreunde eine winzige Minderheit. In unserem Dorf würden nur zwei Bewohner Parzellen von der Gemeinde pachten.
Ihr Anteil dürfte noch weiter sinken. Nicht weil den Kleingärten der Kahlschlag droht, sondern weil der private Gartengenuss in Berlin eng limitiert ist. Schon lange wurden keine neuen Kleingartenanlagen mehr in großer Zahl geschaffen, obwohl die Bevölkerung wächst und wächst und wächst.
Diese Berlinerinnen und Berliner könnten Wahlen entscheiden, agieren aber lieber unpolitisch. Die theoretische Macht der Nichtwähler ist sogar noch größer, als das Bild auf den ersten Blick suggeriert. Denn diese 16 repräsentieren nicht den Anteil der Bevölkerung, der nicht gewählt hat; sondern den Teil der Wahlberechtigten, der seine Stimme nicht abgegeben wollte.
Würde man auch die Unter-18-Jährigen hinzurechnen sowie die Berliner, die aus anderen Gründen - etwa ihrer Nationalität wegen - nicht wählen dürfen, müssten wir weitaus mehr Menschen hervorheben. 2017 beteiligten sich rund 1,89 Millionen Berliner an der Bundestagswahl. Also etwas mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung.