Vorwurf: Mitgliedschaft im "Islamischen Staat" - Syrien-Rückkehrerin steht in Berlin vor Gericht
Mehr als 130 junge Menschen sind in den vergangenen Jahren aus Berlin zum IS in den Irak oder Syrien gereist. Viele von ihnen sind mittlerweile zurück. Seit Mittwoch läuft der erste Prozess gegen eine Rückkehrerin in Berlin. Von Ulf Morling
Mitgliedschaft im sogenannten "Islamischen Staat" - das wird der heute 34-jährigen Zeynep G. von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen. Also: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Unstreitig ist, dass sich die Reinickendorferin im Oktober 2014 in Tegel ins Flugzeug nach Istanbul setzt, mit einem Niqab-Schleier im Gepäck. Wenige Stunden später soll sie laut Bundesanwaltschaft quasi mit dem illegalen Grenzübertritt nach Syrien ihre Mitgliedschaft im "IS" begonnen haben.
Die Anklage des Generalbundesanwalts geht davon aus, dass die damals 28-Jährige in den viereinhalb Jahren ihres Aufenthalts in Syrien zweimal tschetschenische Kämpfer der Terrororganisation heiratete und sich “unter Billigung der Ziele der Vereinigung” dem IS angeschlossen habe. Die Angeklagte bestätigt die Ehen, die Mitgliedschaft im IS bestreitet sie.
Weiter heißt es in der Anklageschrift, sie habe sich um den gemeinsamen Haushalt gekümmert, so dass ihr jeweiliger Mann "für den IS an Kämpfen teilnehmen konnte". Nach der Geburt des Sohnes habe die Angeklagte dem Kämpfer und Ehemann obendrein durch das Aufziehen des gemeinsamen Kindes den Rücken freigehalten.
Seit Mai in Untersuchungshaft
Die zierliche Frau mit der hohen, leisen Stimme sitzt hinter der dicken Panzerglascheibe im Hochsicherheitssaal des Kammergerichts. Seit ihrer Wiedereinreise in Deutschland im Mai 2020 befindet sie sich in Untersuchungshaft. Ihr inzwischen vierjähriger Sohn wurde erst vom Jugendamt in Obhut genommen, inzwischen ist er bei seiner Berliner Oma.
Stundenlang erzählt Zeynep G. ihre Geschichte. Ob es die Wahrheit ist, muss das Gericht entscheiden. Der Vorsitzende Richter Detlev Schmidt fragt interessiert nach, führt freundlich die Verhandlung.
Die Mutter war der Fels in der Brandung
Zeynep G. ist das älteste von vier Kindern der Familie G. In zweiter Generation lebt die türkischstämmige Familie in einem kleinen Ort im Westen Deutschlands. Zeynep geht wie ihre Geschwister zur Schule. Doch ihr Abitur bricht sie ab, weil ihr Vater von einem auf den anderen Tag die Familie verlässt und auf Nimmerwiedersehen in die Türkei verschwindet.
"Meine Mutter war der Fels in der Brandung!", sagt G. im Gerichtssaal. "Respektiere und achte alle Menschen!" habe sie ihren Kindern immer eingeschärft - und ihr Kopftuch abgelegt. Zeynep fehlt ihr geliebter Vater, sie geht von der Schule ab und lebt von Gelegenheitsarbeiten.
Dann zieht sie in die Großstadt, nach Berlin, denn sie will Freiheit. Sie schlägt sich mit Jobs in der Gastronomie und als Putzkraft durch. Mutter und Geschwister folgen ihr in die Hauptstadt. Zeynep macht an der Abendschule ihr Abitur nach und beginnt mit ihrem Psychologiestudium. "Das hat mich sicherlich auch wegen meiner familiären Situation so interessiert", sagt sie. Schließlich möchte sie einen Mann kennenlernen, sie möchte auch Kinder.
Salafistische Veranstaltungen in Berlin
In einem Dating-Portal lernt die Angeklagte Sabadin kennen. Der Tschetschene hat eine sanfte tiefe Stimme, spricht Deutsch und er habe wirklich gut ausgesehen, sagt Zeynep.
Er sei gerade in Syrien, erzählt ihr Sabadin, und helfe ehrenamtlich kleinen Kindern, die oft Waisen und vom Krieg tief traumatisiert seien. Er besorge Kleidung und Medikamente. Sein Traum sei es, sagt er, alle Waisenkinder aufzunehmen und an freundliche Menschen zu vermitteln.
Da habe sie sich wohl in diesen Mann verliebt und nicht bemerkt, wie er sie schleichend und immer tiefer beeinflusst habe, sagt Zeynep.
Zeynep G. besucht auf Anraten ihres Liebsten in Syrien salafistische Veranstaltungen in Berlin. Wo er sie hinschickt, in Wedding und Neukölln, wird ein strenger und konservativer Islam gelehrt und gelebt. Aber die Grundwerte seien Menschenrechte gewesen und die Achtung vor dem anderen, sagt G.
Reise nach Syrien
Nach wenigen Monaten der Bekanntschaft übers Internet sitzt Zeynep G. im Flugzeug nach Istanbul. Schmuggler bringen sie über die Grenze nach Syrien zu ihm. Ihre Familie weiß nichts von ihrer Reise.
Zeynep trifft Sabadin, die beiden heiraten nach islamischem Recht und leben zusammen in der Gegend von Raqqa.
Irgendwann wird eine ehemalige Arbeitgeberin eine SMS bekommen, die von G.s deutschem Handy abgeschickt wurde. Sie solle auch nach Syrien kommen, habe da gestanden, sagte die Frau aus. Zeynep G. bestreitet, diese Nachricht geschrieben zu haben.
Die zweite Hochzeit folgte schnell
Wenige Monate nach der Hochzeit stirbt Sabadin, das ist Mitte 2015. Laut Bundesanwaltschaft war es ein Kampfeinsatz des IS, bei dem "Abu Ibrahim", wie ihn die Ermittler nennen, ums Leben kommt. G. behauptet dagegen, ihr Mann sei niemals beim IS gewesen. Er habe Kindern und anderen Kriegsopfern geholfen.
Nach dem Tod ihres Mannes wird die Angeklagte vom IS in ein "Frauenhaus" gebracht. Unter drei Fotos mit einer Art Bewerbung habe sie sich den nächsten Mann aussuchen können. Das sei die einzige Möglichkeit gewesen, das gefängnisähnliche “Frauenhaus” verlassen zu können, sagt Zeynep. Wieder wählte G. einen Tschetschenen, der zuvor in Deutschland gelebt hatte: Amel B..
Auch Amel sei für sie "ein toller, attraktiver Held" gewesen, sagt Zeynep. Aus dem in Berlin erlebten "freundlichen Salafismus" sei allerdings jetzt die IS-Ideologie geworden, die sie in Syrien erst kennengelernt habe.
B. schlägt sie. "Ich hätte sterben können", sagt G. Als sie von ihm schwanger wird, hören die Prügelattacken nicht auf, nur ihren Bauch verschont er. B. kauft sich ein neues Motorrad, er hat immer viel Geld. Sein bester Freund Mohamed ist IS-Polizist, "Terrror-Polizist", sagt Zeynep G. Die beiden Männer lebten zuvor in Duisburg. Dort sollen sie bei den Hells Angels gewesen sein. Dann kommt auch Ehemann Amel um Leben – er stirbt bei einem Kampfeinsatz für den IS in der Nähe von Raqqa, so der Generalbundesanwalt.
Flucht zurück nach Deutschland
Anfang 2019 wird Raqqa von kurdischen Truppen eingenommen – sie bringen G. mit ihrem Sohn im Flüchtlingslager Al Hawl im Norden Syriens. Zeynep G. will zurück nach Deutschland, sie ist deutsche Staatsbürgerin. Also versucht sie, Kontakt mit dem Auswärtigen Amt aufzunehmen. Sie sei aber hingehalten worden, sagt sie.
Im Januar 2020 flüchtet G. in die Türkei und von dort weiter nach Deutschland. Im Mai kommt sie mit ihrem Sohn am Frankfurter Flughafen an und wird dort direkt in Untersuchungshaft genommen.
In den folgenden 22 Verhandlungstagen muss sich der 6. Strafsenat des Kammergerichts ein Bild machen und dann entscheiden. Die Richter könnten in diesem Fall eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren aussprechen.
Es ist der erste Prozess gegen Syrienheimkehrer in Berlin – aller Voraussicht nach werden etliche weitere folgen.