Interview | Obdachlosigkeit in der Familie - Wie es sich anfühlt, wenn der Vater auf der Straße lebt

Sa 27.02.21 | 11:12 Uhr

Nach dem zwölften Lebensjahr bricht der Kontakt zu seinem Vater ab. Jahrelang hört Norman Wolf nichts, weiß nicht, ob er noch lebt. Dann kommt die Nachricht: Sein Vater lebt. Er ist obdachlos und schläft in den Straßen Hamburgs, wie Wolf im Interview erzählt.

rbb: Wenn es im Winter sehr kalt wird, Herr Wolf, haben Sie dann Angst um ihren obdachlosen Vater?

Norman Wolf: Ja, also es sind einfach Zeiten der Ungewissheit. Ich weiß nicht immer, wie es ihm geht. Ich habe nicht ständig Status-Updates, und gerade wenn die Temperaturen unter Null fallen, da habe ich natürlich Angst.

Sie leben ja in zwei verschiedenen Städten. Er hat kein Handy. Wie halten Sie überhaupt Kontakt zu ihm?

Über Dritte. Dadurch, dass ich schon oft in Hamburg war und ihn besucht habe, habe ich dort auch entsprechende Kontakte geknüpft: Die Leute, die er über die Jahre kennengelernt hat, sind ja auch nicht wenige, wenn man das so lange lebt. Auch auf der Straße trifft man viele Menschen. Und mein Vater ist auch ein sehr geselliger Typ. Das heißt, er hat sich auch mit vielen mal verquatscht und sich mit ihnen angefreundet. Und die kamen dann auch immer mal vorbei, wenn ich in Hamburg war und ihn besucht habe. Das heißt, ich habe vielen Leuten dort meine Handynummer gegeben, damit sie mich im Notfall anrufen können. Oder auch einfach mal zwischendurch, um mir ein Update zu geben.

Wovon lebt er?

Mein Vater lebt vom Pfandflaschensammeln. Ihm ist ganz wichtig, nicht zu betteln. Dazu ist er zu stolz, sagt er, das würde er nicht machen. Er bezieht keine Sozialleistungen, auch wenn er das könnte. Das ist ein vielfältiges Problem. Wie fängt er damit an, Sozialleistungen zu beziehen? Dazu müsste er zum Amt gehen. Er bräuchte eine Geburtsurkunde, da fängt es schon an. Er bräuchte eine Wohnadresse. Es gibt durchaus Wege, das auch als Obdachloser zu tun und anzumelden. Das ist aber nicht mal mit sehr viel, aber mit Arbeit verknüpft, die Organisation voraussetzt, die Erinnerung an Termine voraussetzt. Und das schafft er nicht.

Ihr alkoholkranker Vater verließ die Familie, als Sie zwölf Jahre alt waren. Ein paar Jahre hat er sich noch unregelmäßig gemeldet, da lebte er schon auf der Straße. Dann brach der Kontakt völlig ab. Für fast ein Jahrzehnt brach auch etwas in Ihnen zusammen.

Ja, Sie müssen sich vorstellen, dass ich ein zwölfjähriger Junge war, der plötzlich seinen Vater aus seinem Leben verloren hat. Natürlich fehlt da was. Da war ganz viel kaputt, auch nicht nur durch den Weggang, sondern auch durch den ganzen Streit vorher, bestimmt über anderthalb Jahre hinweg, war mein Zuhause für mich wie so ein Kriegsgebiet.

Zwischen Ihren Eltern?

Ja, das Zuhause sollte ja eigentlich ein Ort der Sicherheit sein, wo man sich erholen kann, wo man irgendwie Gefühl von Geborgenheit hat. Aber für mich war zu Hause ein Ort voller Streiten und Schreien und Weinen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch "Die Fische schlafen noch" , dass Sie, bevor Ihr Vater alkoholkrank wurde, eigentlich ein gutes Verhältnis zu ihm hatten. Sie haben ihn ja, wie das Jungs auch häufig machen, ein Stück weit bewundert. Er war kräftig. Er war auch so ein bisschen kühn, mutig. Er konnte eine ganze Menge Sachen, er war Handwerker von Beruf. Plötzlich war er weg. Sie haben mit 19 einer Mitbewohnerin gesagt: "Papa ist tot." War das auch so etwas wie Selbstschutz?

Auf jeden Fall. Ich habe es einfach irgendwann für mich beschlossen. Einfach, damit ich damit abschließen kann und nicht sieben, acht Jahre lang mit dem Gedanken herumrenne, dass mein Vater vielleicht noch irgendwo ist, das hat mir nicht gutgetan. Das hat mir einen Abschluss gegeben, und ich konnte auch mal mit mir selbst weitermachen und mein eigenes Leben leben.

Wenn man Ihr Buch liest, hat man das Gefühl, Ihr Schicksal nahm dann eine fast Hollywood-hafte Wendung. Ihr Vater bat nämlich nach Jahren des Schweigens einen Unbekannten, ihm bei der Suche nach seinen Söhnen zu helfen. Diesem Unbekannten gelang es dann, Ihre Kontaktdaten herauszufinden. Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Gefühl, als Sie die Nachricht "Vater lebt" bekamen und sogar ein Foto?

Zuallererst war ich superwütend, weil ich nicht geglaubt habe, dass das stimmen kann. Und ich dachte, jemand erlaubt sich einen bösen Scherz mit mir. Und ich dachte, der trifft damit eine ganz, ganz schlimme Wunde. Wie kann man so ein schlechter Mensch sein, so was anzugreifen, jemanden zu verletzen? Und dann habe ich dieses Bild bekommen. Er sitzt auf diesem Bild in einer dicken schwarzen Jacke, graubärtig in einer Bankfiliale und hat eine Bierflasche neben sich und so einen leeren Kaffeebecher. Und ich habe ihn angesehen und dachte, das ist ein Obdachloser. Aber das ist auch mein Vater, und das hat in dem Moment überhaupt keinen Sinn für mich gemacht, denn es konnte kein Bild von meinem Vater geben. Mein Vater war tot, aber trotzdem hatte ich das in der Hand. Da war so viel Unglaube.

Zu allem Unglück brach dann der Kontakt zu diesem Unbekannten ab. Deshalb haben Sie Weihnachten 2017 per Twitter Ihren Vater selbst gesucht. Ich habe mir diesen Tweet noch mal angeguckt, da stand: "Das hier fällt mir schwer. Aber vielleicht kann Twitter helfen. Ich suche meinen Papa, er ist obdachlos und soll in Hamburg leben. Das Foto ist circa ein Jahr alt. Ein Retweet würde mir alles bedeuten." Als Sie ihn dann im Januar 2019 an einem seiner Schlafplätze, dem Vorraum einer Hamburger Bank wiedertrafen, da waren Sie ein erwachsener Mann. War dieser Moment so, wie sie ihn sich erträumt hatten?

Überhaupt nicht. Also, es war zwar schwierig, ihn da liegen zu sehen. Es war erst mal schwierig, ihn zu finden. Und dann habe ich ihn gefunden mit der Hilfe von einem der Bekannten, die ich in Hamburg habe. Aber ihn dann da liegen zu sehen... Und Sie es hatten ja erwähnt: Ich habe meinen Vater damals so sehr bewundert. Er war der große, starke Mensch für mich, dieses Vorbild. Und dann liegt diese Person zwölf Jahre später auf dem Boden einer Bank, und auf seiner Haut krabbeln kleine Tierchen, Fliegen. Dieses Bild wird mir nie wieder aus dem Kopf gehen, als ich ihn da habe liegen sehen und die Überwindung, ihn aufzuwecken, die war so groß. Man muss sich überlegen, das ist der eigene Vater, der da liegt. Trotzdem fällt es so schwer, ihn anzufassen und aufzuwecken, weil da liegt eben nicht nur der eigene Vater, da liegt auch ein Obdachloser. Und all die Vorurteile, die damit verknüpft sind. Das war schwer.

Wahrscheinlich liegt da auch der Gedanke an ein nicht gemeinsam gelebtes Leben zwischen Vater und Sohn. In einem Hollywood-Film würde Ihr Vater jetzt vielleicht einen Alkoholentzug machen, in Ihre Nähe ziehen und wieder mit Ihnen angeln gehen und damit an einen Kindheitsmoment anknüpfen, den sie in ihrem Buch beschrieben haben. In Ihrer beider Leben ist das aber anders weitergegangen. Warum?

Ich habe alles daran gesetzt, ihm zu helfen. Aber manchen Menschen kann man einfach nicht helfen. Er ist ein erwachsener Mann, der seinen eigenen Kopf hat. Ich habe ihm meine Hilfe angeboten. Ich habe versucht, ihn unterzubringen. Ich habe mit dem Sozialamt gesprochen. Ich habe mit verschiedenen Trägern von Hilfsorganisationen gesprochen, mit den ganzen Angeboten für Obdachlosen, die es in Hamburg gibt, ich habe versucht, ihn da zu vermitteln und unterzubringen. Aber es nützt ja nichts, wenn, wenn da keine Bereitschaft dazu da ist.

Aber quält Sie das nicht zu wissen, dass er vielleicht eines Tages auf der Straße erfriert und Sie und auch die Hilfsorganisationen nichts dagegen tun können?

Natürlich quält mich das. Ich würde ihnen am liebsten nehmen und schütteln. Bis er endlich begreift, dass er sich Hilfe suchen soll und dass er einen Entzug machen muss und dass er einen betreuten Wohnplatz braucht. Aber es ist sein Leben. Ich kann ihn zu nichts zwingen. Ich kann nur das nehmen, was ich jetzt habe. Und das ist zumindest nicht mehr die Ungewissheit, dass ich nicht weiß, ob er noch lebt. Das ist einfach ein neues Verhältnis. Und das ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber wir haben dieses Verhältnis. Wir lernen uns aktuell neu kennen, und das ist auch etwas Schönes.

Im Internet habe ich bei der Vorbereitung unseres Gesprächs auch praktische Hinweise gefunden, wie jeder einzelne von uns sich gegenüber obdachlosen und wohnungslosen Menschen verhalten sollte. Was wünschen Sie sich im Umgang mit ihrem obdachlosen Vater?

Dass Leute ihm mit Respekt begegnen und ihn einen Menschen behandeln. Das wäre mir wichtig. Ich habe es selbst erlebt, als ich mit ihm in Hamburg an der Tankstelle stand. Ich wurde zweimal angesprochen, ob dieser Mann dort mich belästigt. Und ich habe jedes Mal gesagt, dieser Mann ist mein Vater. Nein, er belästigt mich nicht, wir unterhalten uns. So offensichtlich sind die Vorurteile, so offensichtlich sind die Stereotypen, die die Menschen in sich tragen. Ich wünsche mir einfach, dass Leute noch mal reflektieren: Wer sitzt da? Ist das einfach ein versoffener Penner? Oder ist das ein Mensch mit Geschichte? Ist das ein Mensch, der vielleicht irgendwo noch Familie hat? Ist das ein Mensch, der vielleicht da gelandet ist, einen Schicksalsschlag erlebt hat oder eine Abhängigkeit erlebt hat, weil er psychisch krank geworden ist? Die allerwenigsten sitzen selbstverschuldet am Straßenrand oder sitzen da, weil sie schlechte Menschen sind. Und ich hoffe, dass ich dafür zumindest ein bisschen sensibilisieren kann.

Ihr Vater ist jetzt 57. Wie sehen Sie seine Zukunft? Wie sehen Sie Ihre gemeinsame Zukunft?

Gute Frage. Aber für unsere Beziehung würde ich mir wünschen, dass wir uns weiterhin sehen, dass er sich auf mich freut und auf die Male, die ich ihn besuchen komme. Und darauf, dass wir, schöne Erlebnisse miteinander haben. Vielleicht den einen oder anderen Ausflug machen. Oder einfach nur was zusammen trinken und quatschen, eine Beziehung aufbauen.

Dann wünsche ich Ihnen und Ihrem Vater viel Glück. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Wolf Siebert, Inforadio.

Sendung: Inforadio, 26.02.2021, 18:45 Uhr

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