150. Jubliäum der Berliner Ringbahn - "So vorausschauend bauen wir heute leider nicht mehr"

Vor 150 Jahren rollte der erste Zug zwischen Moabit und Schöneberg auf einer neuen Bahnstrecke. Die Bauherren ahnten nicht, welch weitsichtiges Verkehrsprojekt sie damals gestartet hatten: Es war die Geburt der Berliner Ringbahn. Von Jenny Barke
Am Anfang der Ringbahn-Geschichte war der Dreck: Den Berlinern stanken Mitte des 19. Jahrhunderts die lauten Dampfloks, die ihre schmutzigen Rußwolken durchs Zentrum ihrer Stadt zogen. Die Kohle-Loks brachten im Zuge der Industrialisierung Jahr für Jahr mehr Waren nach Berlin. Die Gleise verliefen direkt auf und entlang den Straßen und Gehwege und verbanden die Berliner Kopfbahnhöfe, die sich um die Berliner Stadtmitte verteilten, den Anhalter, den Hamburger, den Görlitzer und den Ostbahnhof. Der preußische Staat entschied: Diese Infrastruktur ist nicht mehr zeitgemäß. Deshalb begann er Mitte der 1860er mit dem Bau von Gleisen außerhalb der Stadt.
"Die Ringbahn war ursprünglich vor allem dazu gedacht, neue Verbindungen für das Militär zu schaffen und dann auch für den Güterverkehr", erklärt Sven Heinemann. Der 42-Jährige kennt sich so gut mit der Geschichte der Ringbahn aus wie kaum ein anderer. Er ist erklärter Eisenbahnfan, hat nach eigener Schätzung Hunderte Stunden recherchiert, um pünktlich zum 150. Jubliäum der Ringbahn ein Buch zu veröffentlichen. In der Halbzeit seiner Recherche kam ihm die Corona-Zeit entgegen: Während andere das Puzzlen für sich entdeckten, wanderte Heinemann um die Ringbahn und erforschte jeden Winkel der 37 Kilometer langen Strecke.
Preußischer Staat plante in Superlativen
Dabei machte Hienemann über 6.000 Fotos entlang der Strecke und wurde fast zum Archäologen. Er entdeckte beispielsweise versteckte Tunnelanschlüsse und fand in Archiven Hinweise darauf, dass die DDR ihr eigenes Technikmuseum entlang der Bahnstrecke bauen wollte. Doch das war viel später. Zurück zum Start der 150-jährigen Geschichte:
Von Beginn an dachte der Preußische Staat in Superlativen. Die Berliner Ringbahn, damals noch Gürterbahn genannt, war die teuerste Bahnlinie in Preußen, heute vergleichbar mit einem Milliardenprojekt. Der Bau war eine riesige Herausforderung für die damaligen Architekten und Ingenieure. "Es ist unglaublich schnell gebaut worden und das geht nur mit sehr viel Material." Insgesamt dauerte der Bau des ersten Teilabschnitts zwischen Moabit (heute Beusselstraße) und Schöneberg nur vier Jahre - das war nur mit viel Manpower zu schaffen. Heinemann schätzt, dass Tausende von Leuten an der Ringbahn gebaut haben. Einfach hatten sie es nicht, denn um Berlin herum konnten nicht einfach auf dem platten Land Schienen verlegt werden.
Der Bau? - Irgendwo jottwehdeh durch die Sümpfe
Die Gebiete um Berlin waren teilweise sumpfig, bis heute sind sie von Flüssen, Kanälen und Bächen durchzogen. Der Bau des ersten, 24,6 Kilometer langen Teilabschnitts zwischen Moabit und Schöneberg begann deshalb am neuralgischsten Punkt: dem Treptower Park. "Hier ist die breiteste Stelle der Spree, über 300 Meter mussten damals überbrückt werden." Kompliziert sei das in den 1860er Jahren gewesen, als es noch keine guten Maschinen gab. Die Brücke wurde aus Holz gebaut, für einen Stahlbau war es noch zu früh.
Riesig waren aber nicht nur die Geldmengen, die für das Projekt in die Hand genommen worden sind. Auch die Ausmaße der Strecke waren von Beginn an gigantisch. Damit die Berliner nicht mehr vom Lärm und Dreck gestört werden, sollte die Bahn fernab der Wohnsiedlungen fahren, jottwehdeh auf dem flachen Land in Brandenburg. Die Bahnhöfe lagen zum Beispiel in Boxhagen (heute Ostkreuz) und Rixdorf. Heinemann ist als SPD-Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus für die Verkehrsthemen zuständig. Die damalige Verkehrspolitik fasziniert ihn: "Also das war sehr vorausschauend gebaut. So vorausschauend bauen wir heute leider nicht mehr."
Boxhagener Gutsherren und Stralauer Fischer wurden enteignet
Bei der Entscheidung für die Bahnhöfe stand allerdings weniger der Öffentliche Nahverkehr im Fokus. Viel mehr ging es darum, eine Infrastruktur für den Güterverkehr und das Militär zu schaffen. Im ersten Jahr der Ringbahn waren die verwundeten Soldaten aus dem Deutsch-Französischen Krieg die ersten Fahrgäste. Daneben wurde Vieh über diesen Weg transportiert, Rinder, Schweine, Hühner. Sie wurden unter anderem auf dem ersten Berliner Viehmarkt auf der Brunnenstraße am nahegelegenen Gesundbrunnen feilgeboten. Auch deshalb war zu Beginn der Gesundbrunnen der frequentierteste Bahnhof.
Doch große Verkehrsbauprojekte lösen nicht bei allen Euphorie aus, das war damals so wie heute. Das heutige Ostkreuz lag damals mitten auf dem Acker, die Felder gehörten Gutsbesitzern von Boxhagen. Um dort den Bahnhof bauen zu können, mussten sie ihre Grundstücke abgeben. Und auch für die Stralauer Fischer am Rummelsburger See blieb kein Platz. "Die Menschen waren von der Eisenbahn gar nicht begeistert und haben ihre Flächen nicht freiwillig an die Eisenbahngesellschaft verkauft, sondern mussten alle enteignet werden", so Heinemann.
Die ersten Fahrgäste: Soldaten und Rindvieh
Der Staat setzte sich durch, weil die Ringbahn ein übergeordnetes Projekt von staatlichem Interesse war. Die Grundstücke der ehemaligen Gutsbesitzer wurden bald bebaut - der Startschuss für eine rasant wachsenden Stadt. Heute definieren die Berlinerinnen und Berliner ihren Wohnort danach, ob sie sich innerhalb oder außerhalb des Rings verorten.
Nachdem die Strecke ab 1872 auch für den Personenverkehr freigegeben wurde, wuchsen die Passagierzahlen rasch: Schon im zweiten Betriebsjahr fuhren über eine Million privater Fahrgäste mit den Zügen, das Ostkreuz gewann an Bedeutung. Das kleine Boxhagen hatte vor 150 Jahren 100 Einwohner, bereits 50 Jahre später zur Eingemeindung ins Groß-Berlin wohnten 50.000 Einwohner rund um den Bahnhof Stralau. Heute halten am Ostkreuz bundesweit täglich die meisten Züge - 1.700 Stück.
Nullpunkt liegt heute im Nirgendwo
An die vielfältige Geschichte, die an den Bahnhöfen vorbeigezogen ist, erinnern mancherorts auch die Namen: "Der Bahnhof Greifswalder Straße ist in den 1870ern als Station Weißensee eröffnet worden", erinnert sich Heinemann. Erst in der Nachkriegszeit wurde der Bahnhof in Greifswalder Straße umbenannt, dann schließlich 1986 in Ernst-Thälmann-Park und 1992 wieder zurück in Greifswalder Straße.
Der Ursprung, der Nullpunkt der Anfang der Ringbahn liegt dort, wo es heute keinen Bahnhof mehr gibt: an der Station Moabit, ungefähr da, wo damals Siemens-, Wald-, und Birkenstraße zusammenkommen. Die Ringbahnen haben bis heute ihren Anfangs- und Endpunkt an dieser Koordinate. Ob sie im oder gegen den Uhrzeigersinn fahren, wird von diesem Nullpunkt abgelesen. Der einstige Bahnhof Moabit wurde 1894 geschlossen und nach Norden verschoben zur heutigen Beusselstraße.
Startschuss für die Entwicklung Groß-Berlins
"Die Ringbahn war quasi der Startschuss zur Entwicklung der Grundstücke links und rechts davon. Die Stadt ist dann vom Zentrum nach außen gewachsen", so Heinemann. Die später gebauten U-Bahnen und Autobahnen richteten sich an den Bahnhöfen der Ringbahn aus. Und auch Dutzende Straßenbahnen haben früher die Ringbahn gekreuzt, bis sie im Westen eingestellt wurden. Bis heute sind viele Gegenden rund um die Ringbahn-Stationen Knotenpunkte und prosperierende Zentren innerhalb Berlins, entlang derer sich Märkte, Wohnviertel und große Hauptverkehrsachsen entwickelt haben.
Das bewegte Leben des Berliner Kreisverkehrs
Sendung: Inforadio, 17.07.2021, 9 Uhr