Psychische Belastung und Suizide - Die unsichtbaren Krisen der Berliner Polizei

Gewalt und Überstunden auf den Straßen der Hauptstadt hinterlassen Spuren bei Berliner Polizeibeamten. Teile der Behörde melden erhöhte Suizidzahlen. Gegen psychologische Beratung gibt es dennoch Vorbehalte. Von Roberto Jurkschat
In seinen ersten beiden Jahren bei der Berliner Polizei hat Martin Schmidt* eine Menge Schlägereien miterlebt, Unfälle mit Todesopfern, Bedrohungen und schwere Körperverletzungen. Auf der Straße haben ihn Demonstranten mehrfach mit Steinen und brennenden Pyros beworfen. Am Kottbusser Tor wurde er im vergangenen Jahr mit einer abgebrochenen Bierflasche attackiert.
"Es gab schon viele gefährliche Situationen, aber normalerweise verursachen die bei mir keine psychischen Probleme", erzählt der 26-Jährige im Gespräch mit rbb|24. "Normalerweise fahre ich hinterher auf die Wache, schreibe eine Strafanzeige und kann solche Sachen abhaken."
"Das war, als wäre ein innerer Spiegel zerbrochen"
Während einer Streife in Berlin wird Schmidt irgendwann zu einem Einsatz gerufen, der ihn wochenlang nicht mehr loslässt. Am Tatort liegt ein junger Mann mit schweren Verletzungen. Offenbar gab es ein Gewaltverbrechen. "Solche Verletzungen habe ich bisher selten gesehen", erinnert sich der Polizist. Ein Rettungswagen ist schnell vor Ort und fährt den Geschädigten in die Klinik. "Mir war in diesem Augenblick klar, dass dem jungen Mann geholfen wird", sagt Schmidt.
Ein paar Tage später ruft ihn ein Kollege an und sagt, der junge Mann sei in der Klinik seinen Verletzungen erlegen. "Vorher hatte ich noch keine Probleme mit dem Einsatz, aber in dem Moment war es, als wäre ein innerer Spiegel zerbrochen", erinnert sich der 26-Jährige. "Das war ein ganz beschissenes Gefühl. Das war schrecklich."
Gedanken an den Einsatz drängen sich danach immer wieder in sein Bewusstsein, werden vor allem nachts zu ständigen Begleitern. "In jeder Sekunde, in der ich nicht abgelenkt war, kamen mir die Bilder von den Verletzungen in den Kopf. Der Fall hat mir nach Wochen noch schlaflose Nächte bereitet", sagt er. Schmidt plagen Schuldgefühle, die Frage, ob er den jungen Mann hätte retten können. Kollegen von der Kriminalpolizei versichern ihm: Er hat getan was er konnte. "Das war nett gemeint, aber geholfen hat es in dem Moment nicht."

Polizisten im Schnitt 50 Tage krank
Allein im Jahr 2019 hat die Polizei in Berlin mehr als 43.000 Körperverletzungen erfasst, die meisten davon in Mitte (7.600), in Friedrichshain-Kreuzberg (5.000), Charlottenburg-Wilmersdorf (4.100) und Neukölln (4.100), hinzu kommen 158 "Straftaten gegen das Leben".
Die Auswirkungen dieser Gewaltdelikte bei der Berliner Polizei sind schwer zu greifen, allerdings deutet manches darauf hin, dass es mit der psychischen Gesundheit unter Vollzugsbeamten größere Probleme gibt: Laut einem Gesundheitsreport des Berliner Finanzsenats waren Beamte im Polizeivollzug rund 50 Tage im Jahr krank. Der Schnitt für Arbeitnehmer in der Hauptstadt liegt bei 16 Tagen.
In einer Befragung von FU-Forschern unter 550 Mitarbeitenden in zwei Polizeidirektionen zeigten 22 Prozent der Befragten "Hinweise auf eine klinisch relevante depressive oder ängstliche Symptomatik". Ein Viertel wies "einen riskanten Alkoholkonsum" auf.
Große Unterschiede in der Suizidrate
Die Senatsverwaltung für Inneres teilte auf Anfrage von rbb|24 mit, dass die Berliner Polizei seit 2010 insgesamt 43 Suizide registriert hat. Die Suizidrate liegt damit bei umgerechnet bei 15 Suiziden pro 100.000 Polizisten im Jahr, in der Berliner Normalbevölkerung lag dieser der Wert laut Statistischem Landesamt zuletzt bei 10. Dieser Vergleich ist einerseits heikel, weil die Belegschaft der Polizei sich von der Normalbevölkerung unterscheidet, etwa was das Alter, Geschlechterverhältnis oder das Einkommen angeht.
Aufschlussreich ist aber ein Blick auf die Dienstbereiche der Polizei, die diese Suizide gemeldet haben. Aus dem Landeskriminalamt, der Verwaltung, den Auszubildenden und den vollzugsnahen Diensten, wie dem Objektschutz und dem Gefangenenwesen (insgesamt 11.600 Mitarbeitende) wurden zehn Suizide registriert, wie der Ärztliche Dienst der Polizei rbbl24 mitteilte. Bei der Schutzpolizei (14.800 Mitarbeitende) gab es dagegen 33 Fälle.
Zur Schutzpolizei zählen etwa die Hundertschaften, die Polizeiabschnitte und die Verkehrspolizei. In diesen Diensten, in denen Beamten über längere Zeit brenzlige Situationen bewältigen müssen, liegt die Suizidrate zweieinhalb mal so hoch, wie in den anderen Dienstbereichen - und umgerechnet zweimal so hoch wie in der Berliner Normalbevölkerung.
GdP fordert turnusmäßige psychologische Untersuchungen
"Polizistinnen und Polizisten sind weit überdurchschnittlich viel Leid, Gewalt und Stressbelastungen ausgesetzt", erklärt die Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik gegenüber rbb|24. "Die körperliche, aber auch gerade die psychische Gesundheit meiner Kolleginnen und Kollegen ist für mich von ganz zentraler Bedeutung." Die Berliner Polizei habe deshalb ein Netz aus Beratungs-, Schulungs- und Hilfsangebote im Bereich der Suizidprävention etabliert.
Seit vergangenem März können sich Beamte nach schweren Einsätzen etwa an ein Nachsorgeteam wenden. "Wenn meine Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel als Erste an einem Unfallort sind, an dem sie bei schwer verletzten Fahrzeuginsassen Erste Hilfe leisten und mit ansehen müssen, wie ein Mensch trotz aller Rettungsversuche seinen Verletzungen erliegt, dann gibt das Team wertvolle Unterstützung", betont Slowik.
Bei der Polizeigewerkschaft GdP Berlin ist man allerdings besorgt, dass einige Polizisten solche Hilfen nicht in Anspruch nehmen. "Die Scham sich zu öffnen innerhalb des Kollegenkreises, ist hier und dort noch präsent. Bei zahlreichen Kolleginnen und Kollegen staut sich etwas an, so dass das Fass irgendwann überläuft", sagt der Berliner GdP-Chef Norbert Cioma gegenüber rbb|24.
Die GdP Berlin fordert deshalb turnusmäßige psychologische Untersuchungen, die etwa im Abstand von drei Jahren durchgeführt werden sollten. "Das Risiko, an einer psychischen Erkrankungen wie Angststörung, Depression oder posttraumatischer Belastungsstörung zu erkranken, ist ungemein hoch. Beamten brauchen Möglichkeiten, sich extern Hilfe zu holen, aber auch präventive Behandlungsangebote", so Cioma.

Mehr Polizisten suchen Rat und Hilfe
Intern bietet der Psychosoziale Dienst der Polizei in Spandau eine Anlaufstelle für Polizeimitarbeitende, die Rat und Hilfe suchen. Die Abteilung wird derzeit von 20 auf 23 Mitarbeitende aufgestockt, wie der Leiter des Dienstes, Jan Hülsenbeck, im Gespräch mit rbbl24 sagt. Betroffene können hier mit erfahrenen Kollegen sprechen, mit Psychologen und Sozialarbeitern.
Während der Corona-Pandemie registrierte der Dienst einen Anstieg bei den Beratungsgesprächen. Im Jahr 2020 wandten sich 412 Betroffene an die Anlaufstelle. In den Jahren davor waren stets um die 350 Erstgespräche registriert worden.
Nach Angaben Hülsenbecks, der früher selbst einer Einsatzhundertschaft angehörte, wenden sich zwar viele Polizisten wegen privater Probleme an den Dienst. Allerdings stünden einige dieser Probleme auch in Zusammenhang mit Erfahrungen und den Schichten in den Einsatzdiensten. "Ich gehe davon aus, dass es eine große Dunkelziffer gibt von Betroffenen, die sich nicht an uns wenden", sagt Hülsenbeck. Ein Grund sei Befürchtung, dass Inhalte der Gespräche an Vorgesetzte gemeldet werden könnten. "Wir machen den Betroffenen aber deutlich, dass wir der Schweigepflicht unterliegen. Was hier besprochen wird, bleibt unter uns", betont Hülsenbeck.
Heiligenfeld Klinik registriert mehr Anfragen
Ein anderer Grund, weshalb manche Betroffene vor der internen Beratung zurückschrecken, betrifft offenbar den möglichen Verlust der Dienstwaffe. Das bestätigt auch Sven Steffes-Holländer, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Heiligenfeld Klinik in Berlin-Biesdorf im Gesrpäch mit rbbl24. Steffes-Holländer betreut seit Jahren immer wieder auch Berliner Polizistinnen und Polizisten, die etwa aufgrund posttraumatischer Belastungsstörungen die Klinik aufsuchen.
Wenn Führungsbeamte in den Dienststellen oder in den Hundertschaften eine Vermutung haben, ein Beamter könnte mit seiner Dienstwaffe sich selbst oder andere gefährden, kann das Tragen einer Waffe untersagt werden. "Das Verbot, eine Dienstwaffe zu führen, kann als sehr stigmatisierend empfunden werden", so Steffes-Holländer. In den vergangenen Jahren habe die Klinik einen Anstieg von hilfesuchenden Polizisten aus Berlin festgestellt. "Das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dass psychische Probleme vor allem in der jüngeren Polizeigeneration weniger tabu sind."
Ein Beispiel dafür ist Martin Schmidt, der sich nach mehreren Wochen mit quälenden Gedanken an seine Vorgesetzte gewandt und ihr gesagt hat, wie schlecht es ihm geht. "Sie hat sofort erkannt, dass es eine Ausnahmesituation ist. Sie hat mich um Erlaubnis gebeten, sich in meinem Namen an den Psychosozialen Dienst zu wenden. Dafür bin ich ihr auch im Nachhinein noch sehr dankbar."
Wenige Tage nach diesem Gespräch saß Schmidt mit einem Sozialarbeiter und einem erfahrenen Polizeikollegen in der Beratungsstelle in Spandau. Nach dem ersten Gespräch sei es wesentlich besser gegangen. "Ohne genau zu sagen, was wir da alles besprochen haben, kann ich sagen, dass mir wirklich geholfen wurde. Sie haben mir gesagt, sie können mir dieses belastende Elebnis nicht nehmen. Aber sie haben mir geholfen, das Ganze einzuordnen."
Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie zum Beispiel rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym.
Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 www.telefonseelsorge.de
* Name von der Redaktion geändert
Sendung: Inforadio, 08.07.2021, 08:12 Uhr