Klimawandel - Zahl der Hitzetoten steigt kontinuierlich in Berlin und Brandenburg

Der Klimawandel führt auch in der Region zu immer mehr Hitzewellen. Neue Zahlen des Amts für Statistik belegen: Besonders in den letzten drei Jahren hat der Temperaturanstieg vielen Menschen das Leben gekostet. Von Torsten Mandalka und Anna Geßner
Ein Tag über 25 Grad ist für Brigitte Gröbel aus Berlin-Buch die Hölle. Die 78-Jährige leidet unter COPD, einer unheilbaren chronischen Lungenerkrankung, die zu Atemnot führt. Wenn der Wetterbericht Hitze vorhersagt, weiß sie schon, was auf sie zukommt: Zwei- oder dreimal am Tag muss sie inhalieren, immer das Notfall-Spray bereithalten. Aus dem Haus oder auch nur auf den Balkon zu gehen, kommt für sie dann nicht mehr in Frage: "Da bleibe ich auf dem Sofa sitzen, mache Handarbeiten, lese oder löse Kreuzworträtsel", erzählt sie im Gespräch mit rbb24 Recherche. Wenn sie sich nicht an diese Vorsichtsmaßnahmen halte, seien Anfälle vorprogrammiert: "Dann komme ich mir vor wie ein Fisch auf dem Trocknen. Es fühlt sich an, als ob man ersticken muss. Ich bekomme einfach keine Luft mehr."
Vor allem Ältere sind betroffen
Wie Brigitte Gröbel geht es vielen Menschen, wenn die Hitze kommt. Betroffen sind vor allem Ältere und Vorerkrankte – wie bei Corona. Und gerade diese Menschen sind dann auch in Lebensgefahr, wenn es bei Hitzewellen mehrere Tage in Folge heiß ist.
Brigitte Gröbels Arzt erklärt das Phänomen so: "Was wir bei 35 Grad machen, das macht ein Lungenkranker schon bei 25 Grad. Er merkt einfach: Ich kann nicht mehr so, ich bin platt und die Anforderungen des alltäglichen Lebens überfordern mich", sagt Christian Grah, Pneumologe am Krankenhaus Havelhöhe, der sich mit der Auswirkung des Klimawandels auf die Gesundheit seiner Patienten intensiv beschäftigt. "Atmung und Herz-Kreislauf-System brechen bei diesen Patienten einfach schneller zusammen."
Fast 1.400 Tote in den letzten drei Jahren
In den vergangenen drei Jahren sind in Berlin und Brandenburg besonders viele Menschen in den Hitzephasen gestorben: 2020 und 2019 waren es jeweils insgesamt mehr als 300. Als es im Juli und August 2018 längere Zeit ausnehmend viele Hitze-Exzesstage (24-Stunden-Durchschnittstemperatur über 23 Grad und überdurchschnittliche Sterberate, Anm. d. Red.) gab, wurden sogar mehr als 750 hitzebedingte Todesfälle in beiden Ländern zusammen registriert.
Errechnet hat diese Zahlen das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg. "Man kann schon sehen, dass die Anzahl der Hitzewellen zugenommen hat, insbesondere in den letzten fünf Jahren", sagt Martin Axnick, der sich für das Amt jahrelang mit Bevölkerungsstatistik beschäftigt hat. "Und diese höhere Anzahl der Hitzewellen hat natürlich auch einen Einfluss auf die Hitze-Sterblichkeit. Es sterben einfach mehr Leute, weil es mehr Hitzewellen gibt."
Einen einzelnen Todesfall auf Hitze zurückzuführen, ist allerdings besonders schwierig. Denn auf dem Totenschein steht dann eher Herzinfarkt oder Schlaganfall, auch wenn der Mensch ohne Hitze nicht kollabiert wäre. Statistisch allerdings ist der Effekt klar zu erkennen.
Berlin ist heißer als Brandenburg
Zwischen Berlin und Brandenburg gibt es statistische Unterschiede, auch wenn der Trend gleich ist. "Berlin ist einfach heißer als Brandenburg", sagt Martin Axnick, und zwar im Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnte um 0,7 Grad. "Das klingt jetzt nicht viel, aber in Berlin haben wir mehr als 400 heiße Tage registriert, und in Brandenburg sind es weniger als 300. Und entsprechend sieht auch die hitzebedingte Sterblichkeit aus."
Die Ursache liege darin, dass eine Großstadt eng bebaut ist, sich stärker aufheizt und schlechter abkühlt. "Und genau darum haben wir in Berlin auch mehr heiße Tage identifiziert." Aber auch das Durchschnittsalter der Bevölkerung spiele eine Rolle: Der demografische Faktor, die Alterung der Bevölkerung, ist auf dem Land ausgeprägter als in der Stadt – was die Sterberate zwischen Stadt und Land wieder angleicht.
"Den Klimawandel kann man nicht verleugnen"
Natürlich sind Hitzewellen kein absolut neues Phänomen, und nicht jeder heiße Tag ist auf den Klimawandel zurückzuführen. 1994 etwa kamen in der Region über 1.000 Menschen hitzebedingt ums Leben. Aber anders als in den vergangenen zehn Jahren war das ein Ausreißer, um den Jahrtausendwechsel herum gab es gar keine Hitzetoten. Auf den Zeitraum von 30 Jahren gesehen, ist ein kontinuierlich steigender Trend dabei zu erkennen.
Doch immer wieder versuchen Zweifler, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimwandel auszublenden. Der Mediziner Christian Grah vom Krankenhaus Havelhöhe hält die Verdrängung unangenehmer Tatsachen für ein psychologisches Phänomen: "So wie wir alle in der Covid-Pandemie in den ersten Wochen gesagt haben: 'Komm, machen wir nicht so eine Riesenwelle'. Es ist dieselbe psychologische Reaktion, dass wir erst einmal die Dinge wegdrücken, bagatellisieren oder einfach so tun, als ob sie nicht da sind."
Zwar kann auch der Bevölkerungsstatistiker Martin Axnick an seinen Zahlen sehen, dass manches Hitzeopfer ohnehin gestorben wäre, aber eben später: "Sie haben im Zweifel sechs Wochen weniger gelebt. Ich weiß nicht, wie es anderen Leuten geht, aber ich würde mich über sechs Wochen freuen." Die COPD-Patientin Brigitte Gröbel schließlich ist überzeugt: "Den Klimawandel kann man nicht verleugnen. Es ist eine Tatsache, dass es immer heißer wird auf der Erde." Sie spüre es am eigenen Leib.
Mediziner fordert Hitze-Aktionspläne
Die aktuellen Hitze-Todeszahlen lassen nur bedingt Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung zu. Deutschland sei jedoch vom Temperaturanstieg stärker betroffen als andere Länder, sagt der Klimaexperte und Infektionsepidemiologe Matthias an der Heiden vom Robert-Koch-Institut (RKI): "Diese oft wiederkehrenden und auch langen Hitzeperioden sind wir in Deutschland noch nicht so gewohnt." Es gebe aber Möglichkeiten, damit besser umzugehen, etwa über bauliche Maßnahmen "und man kann natürlich versuchen, im städtischen Raum Ausgleichs- und Verschattungsflächen zu schaffen."
Für Betroffene, wie für seine Patientin Brigitte Gröbel, hat Christian Grah vom Krankenhaus Havelhöhe ganz praktische Tipps für Hitzetage: "Verlasse zwischen 11 und 18 Uhr die Wohnung nicht mehr. Trinke jede Stunde ein Glas Wasser. Bewege dich langsam. Sorge dafür, dass deine Fenster ab 10 Uhr geschlossen sind. Also nachts kühlen, tagsüber konsequent die Fenster schließen." Das sind Hinweise, die für eine alternde und deswegen besonders hitzegefährdete Bevölkerung wichtig sind. Wenn die "Babyboomer" in den nächsten Jahren in Rente gehen, werde das auch Auswirkungen auf die Sterblichkeit haben, prognostiziert Martin Axnick vom Amt für Statistik Berlin-Brandenburg: "Wenn die Bevölkerung älter wird, wird es auch mehr Sterbefälle geben."
Dem könne die Politik entgegenwirken, indem sie den Zusammenhängen zwischen Klimawandel und Gesundheit Rechnung trägt, sagt der Mediziner Grah. Er fordert deshalb, flächendeckend Hitze-Aktionspläne zu erarbeiten und kritisiert die hiesigen Landesregierungen: "Es gibt vielleicht zehn Städte in Deutschland, die bisher Hitze-Aktionspläne haben. Berlin und Brandenburg haben meiner Kenntnis nach noch keinen Hitze-Aktionsplan."
Und Brigitte Gröbel? Was macht die lungenkranke Patientin, wenn der Klimawandel rasant voranschreitet und es immer heißere und längere Sommer gibt? "Also was ich dann mache, weiß ich nicht. Davor habe ich eine Riesenangst."
Sendung: Inforadio, 22.07.2021, 07:55 Uhr