Datenrecherche | Klimawandel - Borreliose-Erkrankungen durch Zeckenbisse auf Rekordhoch
Trockene Sommer, milde Winter – Zecken passen sich an den Klimawandel an. Für die von ihnen übertragene Borreliose war 2020 ein Rekordjahr. Eine Maßnahme gegen Waldbrände könnte den Aufschwung der Zecken weiter stärken. Von Dominik Ritter-Wurnig
Zuerst dachte Emanuel Faber*, da klebe Dreck an seinem Oberschenkel. Aber der vermeintliche Dreck bewegte sich. Der Dreck war eigentlich ein Gemeiner Holzbock, die häufigster Zeckenart in Deutschland. Auf einen halben Zentimeter angewachsen, hatte die Zecke den Mittdreißiger wohl schon vor etlichen Stunden gebissen und sich vollgesogen. Eingefangen hat sich Faber den Parasiten wohl bei einer Kulturveranstaltung auf einem Gartengrundstück in Berlin-Neukölln.
Zeckenbisse – eigentlich Zeckenstiche - sind auch in der Großstadt Berlin absolut keine Seltenheit mehr. "1978 konnte ich im Tiergarten keine einzige Zecke fangen", sagte der Biologe Olaf Kahl. "In den 1980ern hat man dann aufgehört, im Herbst das Laub aus Parks und Friedhöfen wegzuklauben. Vermutlich dadurch kommen Zecken in Berliner Grünanlagen heute wieder häufiger vor."
Parasit und Krankheitsüberträger
Geschätzte zehn Millionen Menschen werden pro Jahr in Deutschland von Zecken gebissen. Meist verursacht der Stich lediglich einen Juckreiz und eine Hautrötung. Aber Zecken können gefährliche Krankheiten übertragen: 2.632 Fälle von Lyme-Borreliose wurden dem Robert-Koch-Institut im vergangenen Jahr in Berlin und Brandenburg gemeldet. Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr, aber 2020 war ein Rekordjahr und der Trend zeigt nach oben.
2012 gab es im Februar extremen Frost - das zeigte sich laut Kahl in weniger gezählten Zecken in diesem Jahr. Auch die Zahl der Borreliose-Erkrankungen war 2012 deutlich geringer.
Die Daten zu Borreliose-Erkrankungen sind mit Unsicherheit behaftet, da sich die Bakterien-Infektion oft nicht zweifelsfrei diagnostizieren lässt und in der Regel keine Laboruntersuchungen auf Antikörper stattfindet. Auch ist davon auszugehen, dass nicht jede Ärztin und jeder Arzt die Diagnose dem Robert-Koch-Institut meldet. Berlin und Brandenburg gehören zu den wenigen Bundesländern in den Lyme-Borreliose eine meldepflichtige Krankheit ist.
Zecken schnell zu entfernen schützt vor Borreliose
Laut dem Zecken-Experten Gerhard Dobler vom Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr sind 15 bis 20 Prozent der Gemeinen Holzbock-Zecken mit Borreliose-Bakterien infiziert. Die in der Region ebenfalls vorkommende Auwaldzecke ist keine Überträgerin der Borreliose.
Das Infektionsrisiko steigt nach einer Saugzeit von mehr als zwölf Stunden, da sich die Borrelien im Darm der Zecke befinden. Entfernt man die Zecke frühzeitig, ist das Übertragungsrisiko nur sehr gering.
"Die Zecken haben die mehrjährige Trockenheit ganz gut weggesteckt"
Die vergangenen drei Jahre waren durch große Trockenheit geprägt, die Zeckenaktivität laut Biologen Kahl unterdurchschnittlich. Wie passt das mit den hohen Borreliose-Zahlen zusammen? "Meine Vermutung: In den letzten Jahren waren die Zecken nicht so aktiv, aber die Menschen waren mehr als in früheren Jahren im Grünen", sagt Kahl. Gerade während der Pandemie hätten vermehrt Menschen Zeit im Wald verbracht, hat Kahl beobachtet. "Die Exposition der Menschen ist ein wichtiger Faktor", sagt Kahl. "In den Sommerferien kommt es zu den meisten Zecken-Stichen."
Der Gemeine Holzbock, auch Ixodes ricinus genannt, wird vier bis sechs Jahre alt und nimmt drei Blutmahlzeiten in seinem Leben zu sich. 99 Prozent der Zeit verbringt er im Laubstreu, wo die relative Luftfeuchtigkeit höher ist.
Wissenschaftler nehmen an, dass die steigenden Temperaturen im Rahmen des Klimawandels zu mehr Zecken in Deutschland führen. Belegen lässt sich das aber nur schwer, da man Zecken nicht einfach so zur Volkszählung aufrufen kann.
Mehr Zecken durch Klimawandel
Katharina Brugger von der Wiener Veterinärmedizinischen Universität versucht aber genau das. Sie zählt, wie viele Ixodes ricinus sich auf einer Flanelldecke festkrallen, die sie zuvor über den Waldboden geschliffen hat. Mit Hilfe solcher Flaggmethoden-Zählung hat sie gemeinsam mit anderen Forschern eine deutschlandweite Karte mit der Zeckendichte modelliert.
Das Ergebnis: Zecken sind überall in Deutschland weit verbreitet aber in der Südhälfte ist die Dichte deutlich höher. Rote Flecke – also, eine hohe Zeckendichte – gibt es aber in fast jedem Bundesland. Wenig überraschend ist die Zeckendichte in Großstädten und in hohen Lagen am geringsten.
"Die Zecke ist ein Generalist und passt sich sehr gut an. Wenn das Mikroklima für die Zecke passt, dann klettert die Zecke den Grashalm hoch und wartet dort auf einen Wirt", sagt Brugger. "Wenn es zu trocken ist, zieht sich die Zecke wieder in die Laubstreu zurück und wartet dort ab."
Buchenmast führt zu Zecken-Boom
Im bayerischen Haselmühle konnte die Wissenschaftlerin gemeinsam mit Kollegen nachweisen, dass die Zeckenpopulation über die Jahre zunimmt – auch wenn die Population schwankt. Aber die Ursachen sind komplex: Buchen haben eigentlich nur alle vier bis fünf Jahre ein Mastjahr, in dem sie ganz besonders viele Früchte – die Buchecker - tragen. Durch die gestiegenen Temperaturen als Folge des Klimawandels kommt es rund doppelt so häufig zur Buchenmast.
Die Buchecker sind eine wichtige Nahrung für Mäuse – und Mäuse wiederum ein wichtiges Wirttier für die Zeckenlarven und -nymphen. Brugger konnte belegen, dass es nach Buchenmasten mehr Mäuse und in Folge mehr Zecken gibt.
Die Zeckendichte ist sehr unterschiedlich – teilweise konnten Wissenschaftler mehr als 300 Zecken auf einer Fläche etwa so groß wie eine Wohnung (100 Quadratmeter) finden.
Brandenburger Waldumbau hilft Zecken
Die Brandenburger Kieferwälder leiden besonders unter den trockenen und heißen Sommern – in den vergangenen Jahren kam es zu verheerenden Waldbränden. Durch den sogenannten Waldumbau werden die reinen Nadelwälder über Jahrzehnte zu Mischwäldern umgewandelt.
"Wenn der Waldumbau von Nadelwald zu Mischwald weiter voranschreitet, dann hilft das auch dem Gemeinen Holzbock in Berlin und Brandenburg", sagt Kahl. Denn: Mehr Laubbäume bedeuten mehr Laubstreu und damit mehr feuchten Lebensraum für Zecken.
Mehr FSME-Risikogebiete
Neben der Borreliose übertragen Zecken noch eine zweite, weit gefährlichere Krankheit: Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). Bis in die 1960er Jahre war Brandenburg – so wie Mecklenburg-Vorpommern – FSME-Risikogebiet. Danach ist die Viruserkrankung hier ausgestorben. Warum ist unklar, vermutlich hat es mit Veränderungen in der Landwirtschaft zu tun.
In den vergenenen Jahren hat das Robert-Koch-Institut immer neue Landkreise als FSME-Risikogebiet ausgewiesen. Der Schwerpunkt liegt in der Südhälfte Deutschlands, in den vergangenen Jahren rückt das Virus Richtung Norden vor. 2021 kamen etwa neue Kreise auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen dazu – Berlin und Brandenburg werden nicht als Risikogebiet eingestuft. "In Regionen mit einer Seehöhe von 500 oder 700 Metern haben Zecken jetzt auch FSME", sagt Dobler. "Das könnte durch wärmeres Klima bedingt sein."
2020 war ein FSME-Rekordjahr mit 704 gesicherten Erkrankungen. Alle bis auf zehn Fälle traten in den ausgewiesenen Risikogebieten auf. Normalerweise wird der Gipfel der FSME-Erkrankungen Mitte Juli erreicht. "Letztes Jahr hatten wir einen ungewöhnlichen zweiten Erkrankungsgipfel im Juli, womöglich durch Corona beeinflusst", sagt der Experte Dobler.
Auch wenn die Zeichen darauf hindeuten, dass es in Zukunft mehr Zecken gibt, heißt das noch nicht, dass es auch mehr Borreliose- oder FSME-Erkrankungen geben muss. "FSME kommt in Naturherden der Zecken etwa so groß wie ein Fußballfeld vor," sagt Dobler. "Es gibt keine Korrelation zwischen der Zahl der Zecken und der Zahl der durchseuchten Zecken."
Zeckenstich ohne Folgen
Für Emanuel Faber* ist der Zeckenstich glimpflich verlaufen. Er konnte den Parasiten leicht entfernen und hat keine Krankheitszeichen entwickelt. Einen Termin für die FSME-Schutzimpfung hat er aber auch gleich vereinbart.
*Name geändert
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