Interview | Möwen in Berlin - "Wir hatten dieses Jahr 60 Brutpaare mitten am Alexanderplatz"
Bis zu 600 Seemöwen soll es derzeit in Berlin geben. Viele brüten und werden vorübergehend sesshaft. Warum sich Möwen ausgerechnet die Großstadt aussuchen - und inwiefern Berlin von ihnen profitiert, erklärt Wildtierexperte Derk Ehlert.
rbb: Herr Ehlert, bis zur Ostsee sind es ja gute 200 Kilometer und dazwischen gibt es auch noch viele andere schöne Orte. Warum kommen die Möwen zu uns?
Derk Ehlert: Sie sind auch an anderen Orten, aber tatsächlich ist Berlin sehr attraktiv. So wie für uns ist es auch für Großmöwen attraktiv. Sie finden hier ausreichend Nahrung, sie finden auch optimale Brutmöglichkeiten - vor allem auf Flachdächern. Da ist niemand und das ist zum Teil sogar besser als an Nord- und Ostsee. Deshalb kommen eben neue Vögel zu uns, zum Beispiel Großmöwen.
Aber als ich klein war, gab es auch schon Möwen in Berlin, daran kann ich mich gut erinnern. Was ist jetzt anders?
Ja, die Lachmöwen, die kennen wir alle, die kleineren Möwen mit dem schwarzen Kopf. Aber seit 15 Jahren etwa kommen zunehmend auch die Großmöwen, die wir eigentlich wirklich nur aus dem Urlaub kennen, von Nord- und Ostsee und vielleicht auch aus dem Mittelmeerraum.
Zuerst waren sie in Berlin nur zu Gast, und nach und nach fanden sie Berlin sehr interessant. Jetzt sind es zunehmend mehr Brutvögel, die überall in der Stadt brüten, auf den Flachdächern. Wir haben in diesem Jahr auf einem großen Kaufhaus mitten am Alexanderplatz über 60 Brutpaare - und das sind nicht nur Silbermöwen, das sind auch Steppenmöwen, die sehen sich ein bisschen ähnlich. Die fühlen sich wohl, vermehren sich und haben eben ausreichend Nahrung. Die fressen Fisch und Ratten - und das ist für uns interessant. Der Anteil der Ratten ist sehr hoch, den sie fressen, also willkommen. Aber sie finden mitunter auch Eis oder Speisereste, die gibt's eben auch reichlich.
Aber ist das gesund? Ich würde jetzt naiv denken: So eine Möwe braucht einen Fisch, möglichst Salzwasser. Wenn die jetzt anfängt, Pommes zu essen oder Ratten, lebt die genau so gesund?
Letzteres ist eiweißhaltig und ein Eis ist auch eiweißhaltig, insofern interessant. Es müssen natürlich Generalisten sein, es sind keine Spezialisten. Es sind Vögel, die die Stadt erkannt haben als neuen Lebensraum. Es sind Gewinner unter diesen Klimaveränderungen.
Und: Sie brauchen relativ lange bis sie erwachsen sind. Wenn sie jetzt flügge wurden - die Zeit ist jetzt vorbei, sie sind schon unterwegs - fliegen sie erstmal quer durch Europa, durch die Welt. Vor drei Wochen haben wir zum Beispiel eine der jungen Möwen auf dem Alexa beringt, die ist zwei Wochen später schon in Südschweden gewesen. Eine andere war eine Woche später in Belgien. Die sind fünf Jahre irgendwo in Europa und kommen dann irgendwann wieder und werden dann wahrscheinlich auch wieder bei uns brüten.
Wenn eine Möwe aggressiv wird und mich bedrängt, weil ich mit meinem Eis da sitze, wie verhalte ich mich dann?
Eis festhalten und vor allem gar nicht erst anfangen mit dem Füttern. Denn das ist die große Gefahr: Wenn erstmal gefüttert wird, dann merken sich die Vögel das. Das können wir auf dem Alexanderplatz auch schon sehen: Die kommen wieder und reißen das Eis dann weg, das soll nicht sein. Bitte nicht füttern - und dann ist auch Ruhe, dann bleiben die oben und suchen Fisch und Ratten und wir sind unten und genießen unser Eis.
Verdrängen die eigentlich auch andere Tiere, ist das ein Problem?
Interessanterweise nicht. Sie sind auf diesen "Inseln", auf diesen großen Flachdächern ganz alleine, nur unter sich. Dann fliegen sie raus zum Müggelsee - wir sehen sogar, dass sie kranke Fische aus dem Wasser holen. Insofern sind sie eine Art Gesundheitspolizei. Aber sie verdrängen nicht andere Möwen - die sind auch vorher da, sind jetzt da und auch künftig.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sascha Hingst, rbb-Abendschau. Es handelt sich um eine redigierte Fassung des Fernsehinterviews.
Sendung: Abendschau, 18.08.2021, 19:30 Uhr