Kinder und Alkohol - Wie Alkoholismus in der Familie Kinder beeinflusst

Wenn Eltern alkoholkrank sind, werden Kinder oft zu tragischen Opfern. Sie leiden unter massiven Schädigungen, falls die Mutter in der Schwangerschaft getrunken hat, oder sind die einzigen, die den Alltag der Familie zusammenhalten. Von Sylvia Belka-Lorenz
Mit sechs oder sieben Jahren ist Anja Gertz zum ersten Mal aufgefallen, dass Alkohol in ihrer Familie eine Rolle spielt, die nicht gut ist. Nicht gut für sie - und auch nicht für ihre Eltern. Das Gefühl, das bei ihr aufkam, beschreibt sie als Angst. "Angst, dass mir meine eigene Familie um die Ohren fliegt", sagt sie. "Angst, dass etwas zerbricht, was mich bis dahin gehalten hat."
Die schweren Episoden von Alkoholismus traten bei Anjas Mutter erst später auf. "Wenn ich nach Hause kam und meine Mutter gefragt habe: 'Du hast doch was getrunken?', hat sie immer abgewiegelt." Das seien immer die gleichen Dialoge gewesen. Anja Gertz beschreibt ihre Mutter damals als "Quartalssäuferin". "Alle drei, vier Monate war ein Wochenende versoffen. Beziehungsweise - sie ist Lehrerin - auch schon mal die Ferien", sagt Anja Gertz heute.
Alkoholismus in der DDR nicht als Krankheit anerkannt
Anfangs hält sie es einfach aus, später sucht sie die Wohnung nach den versteckten Flaschen ab, um sie auszukippen. Sie versucht, die Ausfälle der Mutter irgendwie zu puffern: Sie kümmert sich um Mahlzeiten, die Kommunikation und versucht zwischen den Eltern zu vermitteln. Nach den Trinkphasen ist ihre Mutter voll Scham, der Vater schweigt.
Anja Gertz ist heute ebenso Lehrerin wie damals ihre Mutter. Sie steht mitten im Leben - nicht zuletzt deshalb, weil sich beide gemeinsam einem langen Weg von Therapie und Aufarbeitung gestellt haben. Denn mittlerweile ist Anjas Mutter 25 Jahre trocken.
Eines der Probleme damals, so beschreibt es Anja Gertz, habe darin gelegen, dass Alkoholismus in der durchaus trinkfreudigen DDR nicht als Krankheit anerkannt war. Es habe gegolten: Wer säuft, ist selber schuld. So einfach - so falsch, wie Fachleute heute wissen.
Kinder, die ihre alkoholkranken Eltern versorgen
"Gerade wenn jemand alkoholkrank ist, dann zieht er natürlich den Ärger und die Wut auf sich - auch von Menschen, die sich berechtigte Sorgen machen", sagt Hendrik Karpinski, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Klinikum Niederlausitz. "Auf der anderen Seite muss man sich immer wieder vor Augen halten: Kein Mensch hat sich ausgesucht, alkoholkrank zu sein." Zumal jede oder jeder von uns Suchtverhalten jedweder Art oft näher sei, als man meinen möchte. Wer dann noch um die Dynamik von Suchterkrankungen wisse, könne viel eher Verständnis dafür entwickeln.
Der Notruf über solche Fälle erreicht auch die Mediziner oft auf Umwegen. Kinder mit psychosomatischen Störungen, mit Verhaltensauffälligkeiten oder Familien, in denen die Rollen und Verantwortlichkeiten komplett vertauscht sind. Hier führt Karpinksi das Beispiel eines achtjährigen Jungen auf, mit dem er gearbeitet habe. "Er hat im Laufe der Zeit angefangen, die Mutter zu versorgen", erklärt der Chefarzt. "Er hat angefangen, das Haushaltsgeld einzuteilen und dafür zu sorgen, dass für ihn genug Essen da ist. Aber auch, dass die Mutter genug isst. Dass die nicht volltrunken aus der Wohnung geht und vielleicht in der Kaufhalle auffällt." Doch dass der Junge viel zu früh so viel Verantwortung übernehme, könne nicht gesund sein.
Wichtig ist deshalb, so sagen Experten, ein belastbares Netz aus sehr niedrigschwelligen Hilfsangeboten. Karpinski hat so eines mit dem vielfach ausgezeichneten "Netzwerk Gesunde Kinder" mitbegründet. Familien - und zwar aus allen Schichten - werden, sofern sie wollen, von der Schwangerschaft an von Paten begleitet. Im Netzwerk arbeiten neben den ehrenamtlichen Patinnen und Paten auch Hebammen, Mediziner, Beratungsstellen - praktisch alle, die irgendwie mit der Gesundheit von Kindern zu tun haben.
Ein Netzwerk, wie wahrscheinlich alle Familien es manchmal brauchen können- und ganz besonders die, die ohnehin drohen, durch das gesellschaftliche Raster zu fallen.
Fetales Alkoholsyndrom, die häufigste Ursache für geistige Behinderungen
Annemarie Jost ist Professorin für Sozialpsychiatrie an der Brandenburgischen Technischen Universität und eine der führenden Forscherinnen, wenn es um das Thema FASD geht: das Fetale Alkoholsyndrom, die häufigste Ursache für geistige Behinderungen in der westlichen Welt. Kinder erleiden schon im Mutterleib schwere Hirnschädigungen, weil die Mutter in der Schwangerschaft getrunken hat.
12.000 Neugeborene kommen pro Jahr in Deutschland mit dieser Beeinträchtigung zur Welt. Von optisch erkennbaren Veränderungen über Lernbehinderungen, gestörte Feinmotorik bis hin zu schwersten sozialen Problemen. Kinder, so erklärt es Annemarie Jost, die überall anecken, ohne dass sie das geringste dafür könnten: "Denen wird in der Schule bereits unterstellt, sie seien faul oder unwillig." Den Eltern oder Pflegeeltern werde unterstellt, sie würden ihre Kinder nicht richtig erziehen. Dabei sei für diese Kinder unter Umständen schon der Weg zur Schule eine unglaubliche Anstrengung, sagt Jost. Die Probleme setzten sich fort in Form vielfältiger Probleme in Heimen und Pflegefamilien bis hin zu abgebrochenen Ausbildungen, Beziehungen. Überdurchschnittlich häufig würden diese Menschen kriminell.
Das Fetale Alkoholsyndrom ist nicht heilbar. Die einzige Chance, so Annemarie Jost, liege darin, schon Schwangere mit Suchtgefährdung gut zu unterstützen. Die betroffenen Kinder bräuchten unter Umständen lebenslange Begleitung - und zwar ohne Diskreditierung. Das schließe zwingend ein, auch die Mütter nicht zu stigmatisieren, sondern zu motivieren, sich Hilfe zu suchen.