Arbeiterkinder an Unis - "Viele wollen nicht zugeben, dass sie die ersten sind, die in ihren Familien studieren"

Junge Menschen aus Nicht-Akademikerfamilien haben es oft schwerer, sich an der Universität zurecht zu finden. Unterstützung finden sie unter anderem bei der Initiative arbeiterkind.de. Milena Hadatty war bei einem Ortsbesuch in Potsdam.
Uni Potsdam, ein Nachmittag. Matthias Sandau, ein junger Mann mit Bart und Brille, begrüßt die neuen Lehramtsstudenten in ihrer ersten Seminarstunde über "Lernmotivation". Lernmotivation hat Matthias nie gefehlt. Der junge Soziologe und Dozent promoviert an der Potsdamer Uni darüber, weshalb Menschen sich im Erwachsenenalter weiterbilden – oder nicht.

Der gebürtige Potsdamer ist der erste seiner Familie, der studiert hat. Sein Vater war Schlosser und Feinmechaniker bei der NVA und später bei der Bundeswehr als Zivilangestellter. Die Mutter war Fachverkäuferin im DDR-Außenhandel, später Sachbearbeiterin. Beide haben Matthias in seinem Werdegang unterstützt.
Nach dem Abitur entschloss er sich für Soziologie an der Universität Bielefeld. "Gleich bei der Ankunft am Bahnhof kam mir ein Betrunkener entgegen und sprach mich an", lacht Matthias. "Er torkelte und schrie herum, dass er eine "exponierte Stelle" an der Universität hätte." Den Betrunkenen habe er schnell vergessen, aber den Begriff "exponiert" kannte er nicht und musste ihn erstmal googeln.

"Ich fühlte mich im ersten Semester fehl am Platz"
Auch Denise Kittelmann ist die erste Studentin in ihrer Familie. Die Psychologiestudentin am Standort Potsdam Golm kennt Matthias aus den Stammtischen von "arbeiterkind.de", die einmal monatlich stattfinden. Seit 2008 ermutigt und unterstützt die Initiative junge Menschen aus Familien ohne Hochschulerfahrung, als Erste in ihrer Familie zu studieren. Auf den unterschiedlichen Foren der Plattform können sich Interessierte selbst weiterbilden und updaten, auch regionale Treffpunkte gehören dazu.
Denise Kittelmanns Vater war selbstständiger Handwerker, wollte aber, dass seine Tochter "mehr erreicht" und ist stolz, dass sie jetzt studiert. Auch sie habe in ihrer ersten Zeit an der Potsdamer Uni viele Fremdwörter und eine "abgehobene Wortwahl gehört" und viele Ausdrücke nicht verstanden. "Ich fühlte mich im ersten Semester ziemlich einsam und fehl am Platz. Erst als ich andere Studenten von arbeiterkind.de kennenlernte, und sie über ähnliche Erfahrungen erzählten, hatte ich das Gefühl, nicht die Einzige zu sein, also endlich angekommen zu sein", gibt sie heute zu.
Das unsichtbare Klassensystem der Gesellschaft
Beide denken, dass man keine "Schuldigen" ausmachen könne – weder bei den anderen Studenten, die meist Kinder von Akademikern sind, noch bei der Universität an sich. Aber die deutsche Gesellschaft habe ein Klassensystem, das man zwar nicht offen thematisiere, das aber dennoch sehr präsent sei.
Arbeiterkinder hätten zum Beispiel viele Probleme, sich auch im Studium selbst zu organisieren. Sich einen eigenen Stundenplan aus den angebotenen Kursen zu erstellen, sei nicht selbsterklärend, "wenn man niemanden kennt, der es schon gemacht hat", fügt Denise hinzu. Durch Tipps von arbeiterkind.de hat sie sogar von einem Studentenjob direkt an ihrem Institut erfahren und sich erfolgreich beworben: Sie forscht zurzeit in der biologischen Psychologie im Labor.
"Ich habe vor meiner Stipendienzusage ganz viel gejobbt"
Szenenwechsel, Uni Campus Neues Palais: Matthias und andere Studenten sprechen mit Passanten vor einem arbeiterkind.de-Infostand im Rahmen einer Begrüßungswoche für die Erstsemester. Viele junge Studenten, aber auch einige Schüler, die mit ihren Eltern kommen, wirken etwas verschüchtert. "Viele trauen sich nicht zuzugeben, dass sie die ersten sind, die in ihren Familien studieren und kaum was über das Studium wissen", sagt Luisa Maria Bräuner, aus Sachsen-Anhalt, die im fünften Semester Geschichte und Englisch auf Lehramt studiert.
Luisa kommt aus einer ländlichen Gegend. Ihr Vater arbeitet heute noch als Maurer, ihre Mutter als Altenpflegerin. Als sie in Potsdam zum Studium angenommen wurde, waren die Eltern vor allem wegen der Finanzierung sehr besorgt. "Ich habe vor meiner Stipendienzusage ganz viel gejobbt, weil ich dachte: Wer weiß, ob ich das Stipendium überhaupt bekomme, und ob es dann auch ausreicht", meint Luisa.
Aber dann kam die Zusage und noch dazu ein preiswerter Platz im Studentenwohnheim. Endlich konnte sie ihre Eltern beruhigen: "Die anderen Studenten, die so selbstverständlich studieren, können sich gar nicht vorstellen, welche Kämpfe wir schon durchgegangen sind, um überhaupt so weit zu kommen."
Das Engagement muss Spaß machen
Denise gibt zu, dass man sehr "gut strukturiert" sein muss, um neben dem Studium auch die Jobs und die Arbeit bei arbeiterkind.de zeitlich zu meistern. "Vor allem muss man daran Spaß finden", sagt sie. Um allen Beteiligten Zeit und Wege zu sparen, gibt es neben den allgemeinen Stammtischen zu spezifischen Fragen Whatsapp- und Telegram-Gruppen.
Die Potsdamer arbeiterkind.de-Gruppe hat auch ein eigenes Mentoringsystem: Bei dem "Buddy-Programm" stehen die Magisterstudenten den Neuen in ihrer jeweiligen Fakultät im ersten Jahr bei Bedarf zur Seite. Eine bessere Koordination der Freiwilligen mit Uni-Instanzen, die sich mit Diversity Fragen befassen, steht noch aus. Genauso wie eine offensive Infokampagne zusammen mit den Potsdamer Schulen und Oberstufenzentren, idealerweise ab der 8. Klasse.
Am Neuen Palais fängt es zu dunkeln an, aber am Infostand von arbeiterkind.de ist Matthias noch dabei, den Interessenten von den eigenen Erfahrungen zu erzählen: "Wir sind vor allem eine Sammlung von Einzelgeschichten, wir geben sie weiter, und damit helfen wir anderen und machen Mut."