Starker Anstieg an RSV-Infektionen - Wie die Pandemie die "Rotznasen-Saison" verschärft

Das eigentlich normale Schniefen und Husten im Herbst löst gerade große Bedenken aus: Denn auch die Zahl der schweren Atemwegserkrankungen steigt an, vor allem bei Kindern. Die Kliniken füllen sich. Ein Grund: die Coronapandemie. Von Sebastian Schöbel
Dass es in den Kinderarztpraxis voller wird, wenn im Herbst die Blätter fallen, überrascht den Berliner Kinder- und Jugendmediziner Jakob Maske nicht. Infektionen um diese Jahreszeit seien normal, die Zahl bleibe eigentlich jedes Jahr gleich. "Aber jetzt kommt es geballt", sagt er auf Nachfrage von rbb|24 und bestätigt damit den Eindruck vieler Eltern in diesen Tagen. Die Menge der Erkältungen nimmt zu - und Rotznasen sind nicht die schlimmste Folge, auch schwere Krankheitsverläufe häufen sich. So berichtete zuletzt unter anderem der "Tagesspiegel" [tagesspiegel.de - Bezahlschranke], dass die Kapazitäten auf vielen Kinderkliniken knapp würden, weil besonders viele Kleinkinder mit schweren Atemwegserkrankungen versorgt werden müssten.
Anstieg an RSV-Infektionen
Schuld sind vor allem Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus, kurz RSV. Das Virus sei "besonders aggressiv", sagt Maske, und könne auch bei Kleinkindern zu Entzündungen an den Bronchien führen. Besonders für Frühgeborene und vorerkrankte Kinder im ersten Lebensjahr ist das Virus gefährlich.
Die Zahl der Infektionen und Probleme bei den Behandlungskapazitäten werden bereits seit dem Sommer beklagt. Auch Marcus A. Mall, Direktor der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin an der Charité, spricht von "außergewöhnlich vielen Kindern mit Atemwegsinfektionen, vor allem RSV, die eine stationäre Behandlung mit Sauerstoff oder nicht-invasiver Beatmung benötigen". Das führe zu einer "sehr angespannten Belegungssituation auf den Normal- und Intensivstationen", so Mall. Immer wieder müssten deswegen weniger kritische Fälle abgewiesen oder Operationen bei Kindern verschoben werden. Verlegungen von RSV-Patienten zwischen Berliner und Brandenburger Kliniken kämen immer wieder vor.
Auch Vivantes meldet volle Kinderstationen
Auch der landeseigene Klinikkonzern Vivantes bestätigt auf rbb-Nachfrage eine hohe Auslastung auf den Kinderstationen. "Rund 60 bis 70 Prozent der allgemeinpädiatrischen Betten sind durch Kinder und Jugendliche mit Luftwegsinfektionen oder Pneumonien belegt", teilte eine Sprecherin am Mittwoch mit. Rund die Hälfte der jungen Patient:innen brauche intensivmedizinische Versorgung. "Es wurden teilweise Kinder in andere Kliniken gebracht, oder Vivantes hat Patient:innen aus anderen Kliniken aufgenommen, wenn die Möglichkeit bestand", so die Sprecherin weiter. "Dies fordert von allen Beteiligten - auch von den Eltern - eine große Flexibilität."
Lockdowns verhinderten Aufbau von Immunität
Das Robert-Koch-Institut warnte schon im Sommer in seiner Herbst-Winter-Strategie an, dass sich die saisonalen Erkrankungswellen verschieben können. Das Gesundheitssystem müsse sich auf dieses Szenario vorbereiten. Im September seien doppelt so viele Ein- bis Vierjährige pro Woche mit Atemwegsinfekte in Kliniken eingewiesen worden wie in den Jahren vor der Pandemie, erläuterte das RKI auf dpa-Anfrage. Präventions- und Versorgungsmöglichkeiten zu Influenza, RSV-Erkrankungen und Lungenentzündungen, insbesondere bei Kindern und in der älteren Bevölkerung, sollten vorbereitet werden, so das RKI.
Die Entwicklung stehe auch im Zusammenhang mit den Kontaktbeschränkungen der Corona-Pandemie, erklärt Thomas Erler dem rbb-Sender Antenne Brandenburg. "Die haben wir mehr oder weniger in Isolation zugebracht", so der Ärztlicher Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Potsdamer Klinikum Ernst von Bergmann. "Die Kinder haben sehr wenige Infektionen erlebt. Scheinbar holt die Natur nun einiges nach, was im vergangenen Jahr nicht aufgetreten ist." Auch Kinderarzt Maske sieht einen Zusammenhang mit der Pandemie und den Kontaktbeschränkungen. Den Kindern hätten aufgrund der Lockdowns nur wenige Chancen gehabt, auf natürliche Weise eine Immunität gegen das Virus auszubilden. Nun würden vor allem Kita- und Schulkinder die Viren mit nach Hause bringen.

RSV-Saison hat deutlich früher begonnen
Charité-Arzt Mall weist darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen mehr RSV-Fällen und der Pandemie "weder untersucht noch belegt" sei. Aber auch er vermutet, dass die Infektwelle darauf zurückzuführen ist, dass Säuglinge und Kleinkinder während dieser Zeit "keine natürliche Immunität gegen RSV und andere Vieren aufbauen konnten und deshalb in der aktuellen Infektsaison nicht geschützt sind und daher mehr Kinder gleichzeitig erkranken".
Unvorbereitet seien die Kinderkliniken nicht gewesen, so Klinikchef Erler. Infektionen mit dem RS-Virus seien zu dieser Jahreszeit normal. "In diesem Jahr ist besonders, dass die RSV-Saison deutlich früher begonnen hat, nämlich bereits im September." Bundesweit würden die Kinderkliniken nun an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, so Erler. Man versuche, die ortsnahe Versorgung der kleinen Patienten zu ermöglichen und Verlegungen in andere Kliniken zu vermeiden. "Aber das wird durch die hohe Zahl an Patienten in diesem Jahr nicht immer möglich sein."
Personalmangel sorgt für Engpässe in Kliniken
Grund für die hohe Auslastung in den Kliniken ist auch der chronische Personalmangel. Thomas Erler, der zugleich auch Vizepräsident des Verbandes der leitenden Kinder- und Jugendärzte Deutschlands, fordert deswegen eine Ausbildungsoffensive für Kinderkrankenpflegekräfte. Denn aktuell dürfe aufgrund der Personaluntergrenze jede Pflegekraft nur eine bestimmte Anzahl von Patienten versorgen, so Erler. Was in der Theorie die Qualität der Pflege absichern soll, erweise sich in der Praxis auch als Problem, weil Fachpersonal fehlt. Erler macht dafür auch die Struktur der Pflegeausbildung verantwortlich: Die sieht vor, dass sich angehende Pflegerinnen und Pfleger nach einer allgemeinen Ausbildung für eine Fachrichtung entscheiden können - und offenbar zu wenige in die Kinderkrankenpflege gehen. "Wir brauchen eine Kampagne, dass wieder mehr Kinderkrankenpfleger ausgebildet werden. Da haben wir momentan ein großes Problem."

"Frühe Infekte schützen vor Allergien"
Grund zur Panik vor einer langen und schweren Erkältungssaison sieht Kinderarzt Jakob Maske derweil nicht. Die Maskenpflicht in Schulen und Kitas wieder einzuführen, um neben Corona- auch die RSV-Infektionen zu unterbinden, hält er nicht für sinnvoll. "Das würde es nur aufschieben, nicht aufheben." Für ältere Kinder sei das Virus auch "völlig harmlos", so Maske. Zudem hätten herbstliche Rotznasen auch durchaus positive Effekte, sagt der Kinderarzt. "Frühe Infekte schützen vor Allergien". Wichtig sei, dass Eltern nun konsequent darauf achten, das Immunsystem der Kinder zu stärken, so Maske, mit viel frischer Luft und gesunder Ernährung.
Sendung: Antenne Brandenburg, 26.10.2021, 14:00 Uhr