Interview | Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde - "Von Jungen wird heute viel Ambivalentes erwartet"
Sind sie zu wild, fallen sie auf. Sind sie sensibel, fallen sie auch auf. Für Jungen scheint es heute schwieriger denn je, sich richtig zu verhalten. Da wirken Geschlechterstereotypen, sagt der Erziehungswissenschaftler Jürgen Budde.
rbb|24: Hallo Herr Budde. Sie können weinen und raufen, sie können Balletttänzerin sein und Breakdance machen. Außerdem können sie natürlich auch Mathe und Deutsch. Sind Mädchen die besseren Jungs heutzutage?
Jürgen Budde: (Lacht) Nein natürlich nicht – sie sind ja Mädchen. Da muss man unterscheiden zwischen Alltagsbezeichnungen wie Junge und Mädchen und gesellschaftlichen Vorstellungen von Geschlecht. Und natürlich findet man individuell bei Jungen, Mädchen oder non-binären Kindern eine große Bandbreite von Orientierungen und Einstellungen.
Ich würde die Frage also mit Nein beantworten und zurückfragen, was denn überhaupt "besser" oder "schlechter" bedeuten soll und woran es bemessen wird.
Wären Sie gern nochmal ein kleiner Junge? Vieles wäre sicher anders als in Ihrer eigenen Kindheit.
Die Frage ist ebenso interessant wie schwierig. Denn sie verweist auf ein wissenschaftliches Problem. Nämlich das, dass wir schnell dabei sind, Zeit-Diagnosen zu stellen. Und andererseits ist da die Frage, wie abgesichert wissenschaftliche Aussagen sind. Also wie man Studienergebnisse von heute mit biographischen Ereignissen von früher vergleichen kann. Wenn ich das alles weglasse, wäre ich gerne wieder jung. Gleichzeitig habe ich aber persönlich den Eindruck, dass die gesellschaftlichen Spielräume, sich zu erproben, eher kleiner geworden sind, als das früher der Fall war.
Eine Bekannte, Mutter einer Tochter, hat sich neulich in die Babypause verabschiedet. Sie ist mit einem Jungen schwanger. Sie sagte, sie hätte den größten Respekt vor der Aufgabe, einen Jungen in dieser Gesellschaft großzuziehen. Das empfinde sie als deutlich anspruchsvoller, als ein Mädchen zu haben. Ist da was dran?
Prinzipiell natürlich nicht. Denn da kommt es ja sowohl auf die einzelnen Kinder als auch auf die Familienkonstellationen an – innerhalb derer sich Erziehung und Bildung vollzieht. Darin liegt der viel größere Unterschied als in der Frage der geschlechtlichen Zuordnung von Kindern.
Andererseits gibt es natürlich schon heraufordernde, einengende, rigide geschlechterstereotype Normen für Jungen, die es nicht immer ganz einfach machen. Wie Überlegenheitsimperative oder das schnelle Konkurrenzverhältnis zu anderen. Das heißt aber nicht, dass nicht auch Mädchen mit geschlechtsbezogenen Normen konfrontiert sind. Nun gehen wir heute davon aus, dass Mädchen heutzutage alles werden können, gleichzeitig finden wir aber auch eine hohe Belastung der Mädchen, wenn man beispielsweise an Körper- und Schönheitsideale denkt. Oder daran, dass – obwohl wir davon ausgehen, dass Mädchen souverän und selbstbewusst sind – es später im Beruf eine Einkommensschere zwischen Männern und Frauen gibt, die relativ stabil ist.
Sicherlich sind alle Kinder mit Geschlechterstereotypen konfrontiert, zu denen sie sich verhalten müssen und die einerseits einschränken, andererseits auch Handlungssicherheit gewähren.
Ein Kollege erzählte, dass sich potenzielle Eltern in seinem Freundeskreis offensiv Mädchen wünschen bei der Familienplanung. Jungs seien so furchtbar anstrengend. Alles nur Klischees?
(Lacht) Es gibt schon spezifische Herausforderungen, mit denen Jungen konfrontiert sind. Der Widerspruch zwischen der Erwartung an traditionelle Männlichkeit und den Entfaltungsmöglichkeiten, die Jungen haben, wenn sie den Stereotypen nachkommen, ist groß. Da liegt eine große Spannung zwischen dem, wie sich die Kinder heutzutage erproben können und dem, was die Gesellschaft von Männlichkeit erwartet. Diese Diskrepanz ist für Jungen, Eltern von Jungen oder auch ihre Lehrer und Lehrerinnen manchmal schwierig auszuhalten.
Allerdings unterstellt das natürlich, dass "die Jungen" es alle schwer haben. Das stimmt ja nicht. Außerdem unterstellt man, "die Mädchen" hätten es alle einfach. Aber auch sie zahlen einen Preis für Geschlechterstereotypen.
Der Gedanke setzt auch eine Konkurrenz- und Aufrechnungslogik in Gang, und die halte ich für nicht besonders produktiv. Aber natürlich gibt es auch reale Schwierigkeiten im Laufe von männlicher Sozialisation.
Wo stehen Jungs heute – was wird von ihnen erwartet?
Das können wir nicht auf einen einfachen Nenner bringen, denn es handelt sich um eine modularisierte Vorstellung. Wir erwarten – wie auch von Mädchen – Ambivalentes. Nämlich Durchsetzungsfähigkeit, Konkurrenz, Autonomie, Eigenständigkeit, Leistungsbereitschaft, Körperlichkeit, Souveränität, Humor und Witz. Wir erwarten aber auch soziale Kompetenz und Einfühlungsvermögen. Bei Jungen liegen die Erwartungen stärker auf Autonomie, Souveränität und Abhärtung.
Das sind sicherlich keine Muster, die für jeden Jungen gelten. Aber diese Werte gelten als männliches Prinzip.
Abhärtung ist ein gutes Stichwort. Mein zehnjähriger Sohn ist stolz darauf, dass er nie weint in der Schule. Auch nicht, wenn er sich sehr weh getan hat. Wenn ich ihm sage, dass er das aber ruhig dürfe, erwidert er, dann sei er für die anderen nur ein "Opfer". Zuhause versuchen wir also, an seine sensible Seite zu appellieren, die in seiner Peer-Group nichts wert ist. Eine Schere. Wie überwindet man diese Kluft?
Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich denke, im Verhältnis zu anderen Ungleichheiten wie der der sozialen Schicht beispielsweise oder im Bezug auf Ethnizität oder Rassismus haben wir im Bereich Geschlecht sogar in den letzten 30 bis 40 Jahren relativ große Veränderungen durchlaufen. Wenn man sich nur mal überlegt, wie lange das her ist, dass Frauen arbeiten dürfen, ohne die Erlaubnis ihres Mannes einzuholen. Da haben wir eine ganz schöne Strecke hinter uns.
Aber Ihr Beispiel zeigt ja, dass es nicht die eine Schaltstelle des Patriachats gibt, von der aus Stereotype gesteuert werden, sondern dass wir es mit einer komplizierten Gemengelage zu tun haben - die von scheinbar harmlosen geschlechtsbezogenen Spielzeugen wie Überraschungseiern bis hin zu Bekleidung oder Verwandten bis hin in pädagogische Institutionen und gesellschaftliche Symbolik reicht. Es gibt also nicht den einen Täter, der Stereotype macht und den man bekämpfen kann, damit man in einer stereotypfreien Gesellschaft ist. Das ist vielmehr eine heterogene Gemengelage, in der wir alle verstrickt sind.
Geschlechtergerechtigkeit wird vielfach gefordert – kann es die für alle Jungs in der Gesellschaft überhaupt geben? Jungs sind ja unterschiedlich. Gibt etwas, eine Art Schnittmenge, die für alle Jungs gilt?
Eine Art Schnittmenge ist der Zusammenschluss zwischen dem Ideal, souverän und unabhängig zu sein und einem Konkurrenzprinzip. Das heißt nicht, dass alle Jungs immer gewinnen wollen, sondern sie sich zu anderen in ein Verhältnis setzen. Das scheinen mir zwei Muster zu sein, die Männlichkeit übergeordnet auszeichnen.
Was brauchen Jungs, was Mädchen nicht brauchen?
Nichts. Denn in erster Linie haben wir es ja mit Kindern zu tun und die brauchen, was Kinder eben brauchen.
Was müsste passieren, damit es Jungen wieder leichter haben in der Gesellschaft?
Die Schritte, die im pädagogischen Bereich – für den ich als Erziehungswissenschaftler am besten sprechen kann – in den letzten Jahrzehnten gegangen wurden, müssten weiterverfolgt werden. Wir haben in einer Studie festgestellt, dass sich in den letzten zehn bis 15 Jahren einiges verändert hat. Es gibt eine größere Geschlechtersensibiliät und eine größere Sensibilität, Jungen auch auf ungewöhnlichen Wegen zu unterstützen und zu begleiten. Es gibt weniger implizite Stereotype – das heißt aber nicht, dass sie in den Schulen nicht wirksam sind.
Es geht darum, Kinder weiter zu begleiten bei der Reflektion. Man muss Jungen und Mädchen ermöglichen, über Geschlechterstereotype nachzudenken und sie gleichzeitig nicht dafür verurteilen, wenn sie stereotype Orientierungen vertreten, weil diese ja auch Handlungssicherheit bieten. Kindheit und Jugend besteht ja auch darin, dass man sich so verhalten will, dass man selbst und andere zufrieden sind. Da sind Geschlechternormen eine wichtige Orientierung.
Gibt es denn noch viele Stereotype, mit denen Jungen offen konfrontiert werden?
Es gibt sie. Aber weniger an der Oberfläche. In den 1980er-Jahren, als die Jungsforschung anfing, gab es noch das klassische Indianer-weinen-nicht-Klischee. Aber mein Eindruck ist, dass das das heute nicht mehr die gängige verbale Erziehungspraxis ist. Dennoch kommen ja auch heute noch Jungs auf die Idee, dass Weinen in der Schule nicht gut ankommen könnte.
Die Stereotype werden also vielleicht nicht mehr so offen thematisiert, das bedeutet aber nicht, dass wir sie tatsächlich schon los sind. Die werden von anderen Kindern mitgebracht, von der Oma zum Geburtstagsgeschenk mitgeliefert und von der Bekleidungsindustrie transportiert.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Prieß, rbb|24.