Holocaust-Überlebende Margot Friedländer wird 100 - "Ich konnte atmen, es war mein Berlin"

Berlin 1943: Im Juni erklärt Propagandaminister Goebbels die Stadt für "judenrein". Dennoch gelingt es Hunderten Berliner Juden, der Deportation zu entgehen. Eine von ihnen ist Margot Friedländer. Jetzt wird sie 100 Jahre alt. Ein Porträt von Sigrid Hoff
Eine zierliche Frau, elegant gekleidet, mit großen wachen Augen unter dem widerspenstigen weißen Haar, nimmt auf dem Podium Platz. Wenn Margot Friedländer zu sprechen beginnt, Auskunft über ihr Leben gibt, vergisst man ihr hohes Alter sofort. So vor einigen Wochen im Roten Rathaus in Berlin bei der Vorstellung eines Bildbandes zu ihrem 100. Geburtstag unter dem Titel "Ich lieb' Berlin".
Der Fotograf Matthias Ziegler hat die Jubilarin an Orte in Berlin begleitet, die für ihr Leben bestimmend waren. Es ist eine Liebeserklärung an die Stadt, in der Margot Friedländer am 5. November 1921 geboren wurde. Nach dem Ende des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs war sie mit ihrem Mann nach New York gegangen. Rund 50 Jahre später besuchte sie erstmals wieder die Stadt, in der sie als Jüdin leidvolle Erfahrungen machen musste.
Bewegend beschreibt sie ihre Gefühle damals: "Ich weiß noch, wie ich das erste Mal, die erste Stunde spazieren gegangen bin, in der Leibnizstraße, Ecke Kurfürstendamm gestanden habe, es hat mich erschlagen, ich war so glücklich, hier zu sein, ich konnte atmen, es war mein Berlin."
"Versuche, dich zu retten"
Geboren 1921 als Margot Bendheim in Berlin-Kreuzberg, wuchs sie in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf. Ihr Vater, Artur Bendheim, besaß ein Geschäft im Modeviertel am Hausvogteiplatz. Er hatte im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Erst 1939, in letzter Minute, entschloss er sich zur Flucht nach Belgien. 1942 wurde er in Auschwitz ermordet.
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 fielen erste Schatten auf Margots glückliche Kindheit. 1937 ließen sich ihre Eltern scheiden, sie wechselte von der Modezeichnerschule in eine Schneiderlehre. Mit ihrer Mutter und dem vier Jahre jüngeren Bruder zog sie zu den Großeltern mütterlicherseits. 1941 musste die Familie in eine sogenannte "Judenwohnung" umsiedeln. Ende Januar 1943 klingelte dort die Gestapo an der Tür. Margot und ihre Mutter waren nicht zu Hause, ihr Bruder wurde abgeholt. Daraufhin stellte sich die Mutter freiwillig der Polizei, sie wollte bei dem Sohn bleiben. Einer Nachbarin übergab sie eine Handtasche mit einer Bernsteinkette und einem Notizbuch - und einer Botschaft für die Tochter: "Versuche, dich zu retten".
Margot Friedländers Interpretation heute: "Ich könnte mir vorstellen, dass meine Mutter dachte, ich sei stark genug. Ich war vielleicht sogar als junges Mädchen draufgängerisch. Ich kann mir vorstellen, dass meine Mutter dachte, dass ich das schaffen kann."
Margot Friedländer taucht unter
Damals war sie 21 Jahre alt. Sie riss sich den Judenstern vom Mantel, färbte sich die Haare rot, ließ sich sogar die Nase operieren, um weniger "jüdisch" auszusehen und tauchte unter. 16 Menschen, zählt sie, haben ihr geholfen, immer wieder neue Verstecke zu finden: "Sie haben immer versucht, mir ein Bett zu geben, mir ein Essen zu geben. Man hat gekämpft um zu überleben, diese Menschen haben auch etwas riskiert."
Die Kette und das Notizbuch von ihrer Mutter habe sie seither immer bei sich behalten. Auch noch, als sie im April 1944 bei einer Ausweiskontrolle auf dem Kurfürstendamm sogenannten jüdischen "Greifern" ins Netz ging und ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Dort traf sie ihren späteren Mann, Adolf Friedländer, den sie bereits aus Berlin kannte. Beide überlebten und ließen sich im Frühsommer 1945, noch im Lager, von einem Rabbi trauen. Ein Jahr später emigrierte das Paar in die USA. Adolf Friedländer wollte nie wieder deutschen Boden betreten. Nach dem Tod ihres Mannes besuchte Margot Friedländer einen Kurs im "Memoirenschreiben" und verfasste ihre Autobiografie, die unter dem Titel "Versuche, dein Leben zu machen" auch auf Deutsch erschienen ist. Jetzt erst wagte sie es, in ihre Geburtsstadt zu reisen. 2010 beschloss sie, endgültig nach Berlin zurückzuziehen.
100. Geburtstag mit 100 Gästen
Seither hat Margot Friedländer auf unzähligen Veranstaltungen über ihre Leben gesprochen und zahlreiche Preise erhalten. 2018 wurde sie Ehrenbürgerin von Berlin. Das Weitergeben ihrer Geschichte, besonders an junge Menschen, empfindet sie als ihre Mission.
Bei der Buchvorstellung im Roten Rathaus betonte sie: "Ich kann für die sprechen, die es nicht geschafft haben. Aber ich spreche nicht nur für die sechs Millionen Juden, ich spreche für alle Menschen, die man umgebracht hat. Was ich jetzt mache ist für die Jugend, sie sollen wissen: Was war, war, das können wir nicht mehr ändern, aber es darf nie, nie wiedergeschehen."
Ihren 100. Geburtstag will die Jubilarin mit 100 Gästen feiern. Menschen, die sie seit ihrer Rückkehr nach Berlin in den vergangenen zehn Jahren begleitet haben.
Sendung: rbb Kultur, 5.11.2021