Interview | Messe "Veggieworld" in Berlin - "Die Ernährungswende ist in vollem Gange"

Die "Veggieworld", die Messe für veganen Lebensstil, findet an diesem Wochenende in Berlin statt. Jens Tuider von ProVeg spricht im Interview über die Messe und den Veganismus - und wieso Milliarden Menschen ihn leben sollten.
rbb|24: Hallo Herr Tuider, was ist denn der neueste Trend im veganen und vegetarischen Ernährungs-Bereich?
Jens Tuider: Gerade gibt es insgesamt eine große Experimentierfreude – insbesondere, was neue Rohstoffe angeht. Da werden Erbsen oder Blumenkohl beispielsweise für Käsealternativen genutzt. Außerdem ist das Thema Preisparität wichtig geworden - also zu schauen, dass die pflanzlichen Alternativen nicht mehr teurer sind als die vergleichbaren günstigen konventionellen Tierprodukte. Was auch wichtig ist, ist das Thema Geschmack und dessen Verbesserung. Genau wie das Nachhaltigkeitsthema inzwischen im Fokus steht.
Bei den konkreten Produkten ist das Thema Pilze/Mycelium gerade sehr stark. Insbesondere, weil hier die Geheimzutat Umami enthalten ist. Sie ist mitverantwortlich für die Attraktivität des Geschmacks. Da kommt man mit bestimmten Pilzen sehr nah heran oder übertrifft sogar den Geschmack von Fleisch und Käse. Auch Alternativformen für Fische und Meerestiere oder Käse sind da zu nennen. Letztere ist eine der Königsdisziplinen im pflanzlichen Ernährungsbereich.
Welche Entwicklungen sind nicht nur trendy, sondern auch nachhaltig gesehen besonders herausragend?
Nachhaltig ist etwas auch dann, wenn es bei sehr vielen Leuten ankommt. Angebote, die nur von ein bis zwei Prozent der Leute gekauft werden, bringen relativ wenig. Obwohl sie vielleicht per Definition nachhaltig sind, erzeugen sie dann kaum Wirkung.
Besonders nachhaltig ist natürlich erst einmal alles, was pflanzlich erzeugt wird. Besser ist es, wenn zusätzlich noch weitere Faktoren wie lokale und faire Erzeugung sowie Bioqualität hinzukommen – und entsprechend auch keine Plastikverpackungen et cetera.
Apropos nachhaltig und fair gehandelte Produkte: Was sollte man da eher nicht essen? Stichwort Soya und Landgrabbing in Südamerika.
Das sind brandheiße Themen. Wenn man etwas gegen Landgrabbing oder gegen die Zerstörung des Regenwaldes, gegen Biodiversitätsverlust oder auch Pandemie-Risiken tun will, ist klar, dass man auf Fleisch und andere Tierprodukte sinnvollerweise verzichten sollte.
Was die pflanzenbasierten Alternativen betrifft, gibt es aber auch merkwürdige Erzählungen - wie beispielsweise den Soya-Mythos. Da wird behauptet, der Regenwald würde für den Soya-Konsum der Veganer abgeholzt. Das ist natürlich sehr weit von der Realität entfernt. Es gibt ja weltweit nur zwischen ein und drei Prozent vegan lebende Menschen. Wie die für die gesamte Regenwaldabholzung verantwortlich sein sollen, erschließt sich nicht. Bei über dreiviertel der Regenwaldabholzung für die Soya-Ernte landet das Soya nicht im Soya-Schnitzel oder in Tofu, sondern im Futter für die Massentierhaltung. Es ist also letztlich ein Vorprodukt, um unseren Fleischhunger zu stillen. Dass sich pflanzlich ernährende Menschen zufälligerweise auch Tofu essen passt in das Narrativ und wird gern falsch dargestellt.
Oft geht es auch um Avocados, die Wasser- und Ressourcen-intensiv erzeugt werden. Oder auch um bestimmte Nüsse wie Cashews oder Mandeln. Auch hier sind nicht die sich pflanzlich ernährenden Menschen daran schuld, dass es den Konsum gibt. Auch da sind diese Konsumenten in einem geringen einstelligen Bereich beteiligt. Das heißt: Alle anderen, die auch Fleisch essen, die essen ja zusätzlich noch Avocados und Cashews.
Es gibt damit also schon Produkte wie diese, die man zurückhaltend konsumieren sollte.
Gibt es, was pflanzliche Ernährung betrifft, ein Stadt-Land-Gefälle?
Tatsächlich gibt es ein solches Gefälle und vor einigen Jahren war das noch viel deutlicher ausgeprägt. Da gab es, wenn überhaupt, ein etwas größeres pflanzliches Angebot fast nur in den Großstädten. Oder im Online-Versandhandel. Inzwischen gibt es zumindest eine Grundausstattung auch bis in die entferntesten Winkel der ländlichen Regionen. Es gibt natürlich schon noch einen Unterschied zu den Großstädten. Hier ist das Angebot einfach sehr viel breiter. Sowohl in der Gastronomie als auch im Einzelhandel. Das hat höchstwahrscheinlich auch mit der Demographie zu tun. Jüngeres Klientel orientiert sich häufig in die Städte und generiert dort eine stärkere Nachfrage für diese Produkte. Grundsätzlich können sich progressivere Ideen in Städten schneller durchsetzen.
Warum ist veganes Leben gleich ein Lebensstil und nicht einfach mehr beiläufig eine Art, sich zu ernähren? So wie manche eben keinen Zucker essen oder keinen Fisch.
Die etwas extremeren Vertreter und Vertreterinnen einer Position sind oft die lautesten. Das erzeugt schnell den Eindruck, alle Veganer und Veganerinnen seien so.
Es gibt eine große Bandbreite an Menschen, die diese Lebensweise auf sehr unterschiedliche Art praktizieren. Sicher ist das Thema aber für einige Menschen identitätsstiftend. Die große Mehrheit geht aber eher pragmatisch damit um. Wir bei ProVeg wollen auch nicht, dass einige wenige Menschen perfekt und zu hundert Prozent richtig vegan leben. Wir wollen Millionen und Milliarden Menschen dazu bringen, Veganismus auf ihre, nicht perfekte Weise, zu leben. Denn das macht am Ende die Wirkung in der Welt sehr viel größer.
Derzeit laufen ja Koalitionsverhandlungen. Gibt es besonders wichtige Forderungen ihrerseits?
Die Ernährungswende ist ja in vollem Gange. Die Wissenschaft fordert sie aus verschiedensten Gründen und selbst die Deutsche Gesellschaft für Ernährung, die nicht als allerprogressivste Institution gilt, fordert bis zu 70 Prozent weniger Fleisch aus Gesundheitsgründen. Auch Klimaforscher fordern eine Wende. Die Gesellschaft – insbesondere die jungen Generationen – hat das ja längst erkannt. Und es gibt sehr viele Konzerne, die sich dem Thema verschrieben haben. Und es gibt gigantische Wachstumsprognosen für diesen Markt.
Von der Politik wünschen wir uns vor allem, dass dieser Transformationsprozess als Chance verstanden wird. Als Chance, nicht nur die Welt zu retten, sondern auch, um den Innovationsstandort Deutschland und Arbeitsplätze nachhaltig zu sichern. Anders als bei der digitalen Wende oder der E-Mobilität, sollten die Zeichen der Zeit nicht wieder verschlafen werden. Wir sollten ganz vorne mit dabei sein.
Was müsste dafür passieren?
Die Forschung und die Alternativprodukte selbst sollten stärker unterstützt und gefördert werden von der Politik. Es braucht faire Marktvoraussetzungen. Aktuell werden die schädlichen Tierprodukte durch den reduzierten Mehrwertsteuersatz begünstigt, während die guten Alternativen quasi bestraft werden. Da fordern wir mindestens eine Angleichung.
Und den Erzeugern, den Bauern und Bäuerinnen, muss ein Weg aufgezeigt werden von der Kuh- zur Hafermilcherzeugung. Aber dieser Strukturwandel muss sinnvoll und fair für sie gestaltet werden. Die Proteinwende, die wir brauchen, sollte möglichst viele Gewinner erzeugen. Da sollte der Staat entsprechend unterstützen.
Außerdem wollte man Bezeichnungen wie Schnitzel, Burger oder Milch für die Alternativprodukte komplett verbieten. Aber so unfähig sind die Verbraucher ja nicht. Sie erwarten ja auch keinen Jäger im Jägerschnitzel. Wir brauchen ein gleichberechtigtes Spielfeld für die Alternativprodukte.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Prieß, rbb|24
Sendung: Antenne Brandenburg, 01.11.2021, 14 Uhr