Interview | Sexualisierte Gewalt gegen Männer - "Es gibt Beratungen, bei denen wir nie alle Details erfahren"

Mo 15.11.21 | 06:12 Uhr
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Symbolbild: In einer Landesgeschäftsstelle werden Plakate aufgehängt, die sexualisierte Gewalt gegen Männer thematisieren. (Quelle: dpa/B. Gyldenfeldt)
Bild: dpa/B. Gyldenfeldt

Ein Mann ist stark. An dieser Erwartung zerbrechen viele, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, sagt Lukas Weber. Er leitet einen Verein, der eine Traumahilfe für Männer betreibt. Wie wird dort geholfen - und kann man Gerechtigkeit erwarten?

rbb|24: Herr Weber. Sie betreiben in Berlin-Neukölln ein Beratungsangebot, das sich an Männer richtet, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Was hat Sie dazu bewogen?

Lukas Weber: Unser Verein "Hilfe für Jungs" richtet sich bereits seit 1994 mit verschiedenen Projekten an Jungen und junge Männer. Wir betreiben unter anderem Gesundheitsaufklärung, Beratung und Prävention. Es geht dabei immer um sexualisierte Gewalt oder Ausbeutung. Zu diesem Thema führen wir eine Fachberatungsstelle, mit der wir uns an betroffene Minderjährige wenden: "Berliner Jungs".

Irgendwann mussten wir feststellen, dass es eine riesige Versorgungslücke gibt. Denn auch die Jugendhilfe wird in Berlin nur in Einzelfällen bis 27 gewährt. Nach der Volljährigkeit ist es für junge erwachsene Männer, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, sehr schwierig, weiterführende Beratungen oder stabilisierende Angebote zu finden. Nicht jede Selbsthilfegruppe spricht jeden an, entsprechende Therapieplätze sind sehr rar gesät. 2016 haben wir "Mut – Traumahilfe für Männer" gegründet, ein niedrigschwelliges, anonymes und kostenfreies Angebot.

Zur Person

Lukas Weber, Geschäftsführer des Berliner Vereins Hilfe für Jungs
rbb/Oliver Noffke

Lukas Weber, 34, Geschäftsführer beim Verein "Hilfe für Jungs", ist staatlich anerkannter Erzieher, Sozialarbeiter und traumazentrierter Fachberater. Seit 2014 ist er für den Berliner Verein tätig. Die Beratungsangebote sind vielfältig und richten sich an Jungen, Männer sowie Trans*- und Inter*-Personen.

Von was für einem Ausmaß an möglichen Betroffenen sprechen wir eigentlich?

Wir haben in unserem Mut-Projekt zwei Mitarbeiter, die sich 1,5 Stellen teilen. Aktuell kommen ungefähr 40 Männer regelmäßig zu uns in die Beratung. Das zeigt bereits, dass der Bedarf groß ist. Einige Studien gehen davon aus, dass zwischen drei und 16 Prozent der Männer in Berlin irgendwann einmal sexualisierte Gewalt erfahren haben. Hochgerechnet wären das zwischen 50.000 und 270.000 Männer. Ob in Kindheit, Jugend oder im Erwachsenenalter.

Was passiert in den Beratungen?

Es kann erstmal ein Kontakt aufgebaut werden, per Mail, per Telefon, durch befreundete Projekte, um einen Bedarf abzuklären. Im Erstgespräch ist es häufig so, dass die Berater reden und den Betroffenen die Möglichkeit geben, anzukommen, zu erfahren, wer wir sind. Die Betroffenen bestimmen dabei das Tempo, sie können erzählen, warum sie bei uns sitzen.

Wir sind keine Therapeuten, wir sind Sozialarbeiter mit Zusatzqualifikationen, speziell im Bereich Traumata- und Stabilisationsarbeit. Wir sind nicht die Polizei oder die Staatsanwaltschaft. Wir bohren nicht nach und wollen wissen, was passiert ist. Es gibt Beratungen, bei denen wir nie alle Details erfahren, wo wir aber sehr wohl wissen, die Person hat sexualisierte Gewalt erlebt.

Uns geht es darum, abzuklären, wie wir dabei unterstützen können, dass der Lebensalltag wieder geregelter wird; dass die Albträume weniger werden; dass Momente, in denen Hilflosigkeit entsteht, weniger werden.

Wenn es überhaupt zu einer Verurteilung kommt, ist es in den meisten Fällen eine Geldstrafe

Wie äußert sich so ein Trauma?

Vielleicht ändern wir den Begriff von Trauma in Belastung. Denn alle Männer, die zu uns kommen, haben eine Belastung. Nicht unbedingt alle ein Trauma. Es kann natürlich einen Unterschied machen, ob ich einen 25-jährigen Mann vor mir habe, der seit der frühesten Kindheit sexualisierte Gewalt durch ein Familienmitglied erlebt hat, dem nie geblaubt wurde und der nie Unterstützung erfahren hat, oder ob ich einen 25-Jährigen vor mir habe, der das gerade in der aktuellen Partnerschaft durchmacht und schneller den Weg zu uns findet.

Spielt vielleicht Drogengebrauch eine Rolle, so dass sie vielleicht gar nicht mehr wissen, was ist mir eigentlich passiert? Oder machen sie sich Vorwürfe, weil sie nach Drogenkonsum nicht nein sagen konnten, obwohl sie etwas nicht wollten? Es gibt verschiedene Gründe, eine Belastung spüren jedoch alle.

Wichtig ist auch, dass wir den Blick der Gesellschaft auf Männlichkeit aufgreifen: Ein Mann ist stark, einem Mann passiert so etwas nicht. Das sind Erwartungen, die Betroffenen natürlich enorm zusetzen.

Wie ist das, wenn irgendwann doch die Frage aufkommt, ob man die Polizei einschalten soll? Ich kann mir vorstellen, dass da extreme Hemmungen bestehen?

Es gibt nicht ohne Grund eine sehr lange Verjährungsfrist beim Thema sexualisierte Gewalt. Bei der Polizei wird nachgefragt, was ist wann, wo, wie tief, mit wem passiert. Und zwar in detailliertester Form. Da ist nicht jeder Mensch schon bereit dafür. Deswegen ist wichtig, dass auch Männer erst einmal Stabilisierungsarbeit angeboten bekommen. Von der Anzeige bis zum Gerichtsverfahren vergeht oftmals ein Jahr. Das ist eine Zeit, in der Ungewissheit besteht, in der nicht klar ist, kommt es überhaupt zu einem Prozess? Möchte ich es mir antun, das alles noch einmal vor Gericht auszusagen? Wenn Betroffene das möchten, begleiten wir sie auf dem Weg, eine Aussage zu machen. Aber es ist nicht unser Ziel, dass jeder diesen Weg geht.

Wie gehen Sie damit um, wenn Ihnen Straftaten mitgeteilt werden, Sie aber erkennen müssen, das wird vielleicht nicht aufgeklärt? Das stelle ich mir ziemlich frustrierend vor.

Wenn ich bei Jungen oder jungen Männern Gerichtsprozesse begleite und sehe, was am Ende dabei rauskommt, dann ist das in den seltensten Fällen ein Urteil, von dem ich sagen kann: Ja, dafür hat es sich gelohnt. Wenn es überhaupt zu einer Verurteilung kommt, ist es in den meisten Fällen eine Geldstrafe. Vielleicht wird einmal eine Bewährungsstrafe ausgesprochen.

Dass Täter lange Zeit ins Gefängnis gehen, kennen wir aus Fällen, die durch die Presse gehen: Lügde, Staufen, Bergisch Gladbach. Solche großen Fälle werden mittlerweile zwar häufiger aufgedeckt, aber unsere tagtägliche Arbeit sieht anders aus. Wir erleben viel Bürokratisierung, viel Verschleppung und das ist natürlich eine Tortur. Bestimmte Staatsanwälte oder Anwälte scheinen alles zu versuchen, um Betroffene unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Letztendlich versuchen wir, uns wirklich auf die Betroffenen zu fokussieren.

Sehen Sie Lücken im Gesetz?

Ja absolut. Es gibt gerade einen neuen Gesetzesentwurf. Wir als Fachberatungsstelle haben da eingewirkt, mal Begrifflichkeiten zu ändern, von sexualisierter Gewalt zu sprechen und nicht etwa von Kinderpornographie. Mittlerweile wird auch die Verbreitung und Darstellung von sexualisierter Gewalt an Kindern härter bestraft. Das ist alles schön und gut.

Aber letztendlich sind diese Gesetzesänderungen meistens nur politische Instrumente, die nicht wirklich den Betroffenen helfen. Was ihnen wirklich helfen würde, wäre Geld für Fachberatungsstellen, wäre Geld für Aufklärungsprogramme, für Präventionsarbeit. Oder Geld, um Strafverfolgungsbehörden, Anwälte, Gerichte so auszustatten, dass so ein Prozess nicht Jahre dauert. Das wäre wünschenswerter, als Abschreckung.

Was raten sie Menschen, denen etwas anvertraut wird?

Grundsätzlich ob Kind, Jugendlicher oder auch Erwachsener, immer erstmal das Individuum ernst nehmen. Es gibt einen guten Grund, warum dieser Mensch mir das sagt. Es ist also wichtig, ein offenes Ohr zu haben. Nicht gleich mit zig Ratschlägen kommen. Es kommt natürlich darauf an, wer sitzt jetzt vor mir. Ist es ein achtjähriges Kind, ist es ein 18-Jähriger, ist das mein Freund? Wichtig ist, dass man ein offenes Gespräch führt, sich kein Urteil über die Person macht, die zu einem kommt, nicht generalisiert oder zu tief nachbohrt.

Es geht darum zu zeigen: Ich bin da für dich. Oder auch: Ich merke jetzt gerade, es wird viel für dich. Wollen wir später weiterreden und kurz spazieren gehen? Oder auch zu sagen: Ich bin gerade überfordert. Aber vielleicht können wir uns gemeinsam Unterstützung holen. Ich kann nicht von jedem erwarten, eine Expertise in Themen wie sexualisierte Gewalt zu besitzen. Ich kann aber erwarten, dass mir offen zugehört und Gesprächsbereitschaft signalisiert wird.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Oliver Noffke für rbb|24.

3 Kommentare

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  1. 3.

    Was auch ein tabuthema ist, das viel Gewalt auch von Frauen ausgeht, meist zwar eher verbaler Natur, aber auch das kann Menschen zugrunde gehen lassen, habe ich mehrfach erlebt :(
    Nicht umsonst sind 50 % aller Krankheiten und Tode mental bedingt.
    Denn nicht Männer sind vernetzt, sondern Frauen, da kommt meistens noch eine gemeinsame Komponente hinzu.

  2. 2.

    Danke für diesen Beitrag und den Mitarbeitern für Ihr Engagement! Wenn Ihr noch jemanden braucht, ich würde mich freuen, wenn man helfen kann. Grosses Feld mit grosser Dunkelziffer, unsere Gesellschaft macht es möglich und interessiert sich kaum, ausser es gibt mal nen grossen Fall mit Medienrummel.
    @RBB Haben euch die Berliner Jungs Wünsche hinterlassen, wie man bei Interesse helfen kann oder soll man sich direkt dorthin wenden?

  3. 1.

    "Gerechtigkeit" muss auch von den Verantwortlichen des Staates kommen. Es genügt nicht, einfach nur einen sogenannten Opferbeauftragten zu ernennen. Das ist ohnehin nur ein "zahnloser Tiger"
    Die Opfer , brauchen unbürokratische Hilfe. Es artet in unermesslichen Bürokratie aus. Hinhalten über Jahre. Von der Materie haben die, so scheint es, Entscheidungsträger überhaupt keine Ahnung.
    Was ist aus dem " Fonds Sexueller Missbrauch " geworden. Wo sind die angeblich 100 Millionen Euro geblieben? Bei den Opfer scheint nicht viel angekommen zu sein.
    Es liegt sehr vieles im Argen auch mit der juristischen Aufarbeitung der Täter, gerade bei Mitarbeitern der kath. Kirche, scheinen die ,einen Sonderstatus zu haben, was Strafverfolgung anbelangt. Die Opfer leiden ein Leben lang und viele Täter frönen weiter ihr feudales Leben.

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