Strafverfolger rüsten nach - Berlin reagiert mit Schwerpunktabteilung auf Flut von Encrochat-Verfahren

Die Entschlüsselung des Kryptodienstes Encrochat liefert Ermittlern neue Erkenntnisse zu schwerer Kriminalität, Drogen- und Waffenhandel. Immer mehr Verfahren gehen inzwischen darauf zurück - und stellen Strafverfolger vor neue Herausforderungen.
In Zusammenhang mit den entschlüsselten Encrochat-Daten werden etwa 650 Verfahren mit jeweils mindestens einem Verdächtigen auf die Berliner Justiz zukommen. Davon geht Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) derzeit aus - und hat personelle Verstärkung angekündigt. Die neue Schwerpunktabteilung bei der Staatsanwaltschaft soll mit Jahresbeginn 2022 ihre Arbeit aufnehmen, wie die Senatsjustizverwaltung auf Anfrage mitteilte. Dieser werden demnach zu Beginn eine Abteilungsleitung und sieben neue Staatsanwältinnen oder Staatsanwälte angehören.
Landgericht Berlin stockt auf
Am Landgericht sollen zudem im ersten Quartal 2022 die ersten drei von insgesamt fünf neuen Strafkammern eröffnet werden. Gerichtspräsident Holger Matthiessen rechnet mit rund zusätzlichen 400 Verfahren auf Grundlage der Encrochat-Daten - das entspricht fast einer Verdoppelung des Jahrespensums der zuständigen Strafkammern. "Die hohe Zahl der erwarteten Encrochat-Verfahren stellt die Berliner Justiz vor neue Herausforderungen", sagte Justizsenator Behrendt. So werde überlegt, wie die nötigen Verhandlungssäle für die zusätzlichen Prozesse zur Verfügung gestellt werden könnten. Außerdem geht die Justiz von mehr Verdächtigen aus, die in Untersuchungshaft kommen. Dies könne zu Platzproblemen in der U-Haftanstalt Moabit führen. Es werde nach Ausweichmöglichkeiten gesucht.
Brandenburger Polizei gründete AG "Echt"
In Brandenburg reagierte die Polizei bei der Auswertung der Datenflut mit der Gründung der Arbeitsgemeinschaft "Echt", wie Polizeisprecher Torsten Herbst rbb|24 sagte. Am Landeskriminalamt seien zehn Brandenburger Polizisten sowie drei Beamte des Zollfahndungsamtes Berlin-Brandenburg zusammengezogen worden. Operativ unterstützen Kripobeamte aus den Direktionen.
Insgesamt führte die Brandenburger Polizei seit 2020 "mehr als 50 Ermittlungsverfahren, die entweder auf Encrochat-Daten beruhen oder in die diese Daten eingeflossen sind", so Herbst. Gegen mehr als 70 Tatverdächtige sei ermittelt worden oder man sei gerade noch dabei. "Insgesamt konnten bisher 33 Haftbefehle erwirkt werden. Zehn der Personen wurden bereits verurteilt – jedoch noch nicht alle rechtskräftig", so Herbst weiter. So laufen derzeit am Landgericht Frankfurt (Oder) drei Verfahren mit insgesamt acht Angeklagten, die im Zusammenhang mit einer Drogen-Razzia Anfang Februar in Frankfurt (Oder) stehen.
Brandenburger Justiz von Encrochat für Ministerium nicht überfordert
Nach Angaben des Brandenburger Justizministeriums werden aktuell 46 Ermittlungsverfahren mit Encrochat-Hintergrund an den vier märkischen Staatsanwaltschaften geführt, 15 seien bereits vor Gericht. Das Aufkommen halte sich in Brandenburg im Rahmen, sagte Ministeriumssprecher Horst Fischer rbb|24. Das sei mit der bisherigen Struktur zu bewältigen.
In Berlin aktuell 100 Verfahren anhängig
In Berlin sind derzeit nach Behördenangaben etwa 100 solcher Verfahren bei der Staatsanwaltschaft anhängig und werden vor allem in der Abteilungen für Organisierte Kriminalität verfolgt.
Erst vor einer Woche hatte die Polizei mehr als 20 Wohnungen und Geschäftsräume im Rockermilieu in Berlin und bei Potsdam durchsucht. Sieben Verdächtigen wurden unter anderen wegen des Verdachts des Drogenhandels und des Verdachts des Handels mit Waffen verhaftet.
20 Millionen Nachrichten aus kriminellen Milieu abgefangen
Die Firma Encrochat bot aufwendige und teure Verschlüsselungen für Handys an, genutzt wurde das vor allem von Kriminellen in Europa. 60.000 Teilnehmer sollen den Chatdienst genutzt haben, weil es hieß, die Technik sei nicht zu knacken. Der Polizei in den Niederlanden und Frankreich gelang das trotzdem. 20 Millionen Nachrichten und Gespräche aus dem Zeitraum April bis Juni 2020 wurden abgefangen und entschlüsselt. Die daraus ermittelten Informationen seien über Europol an das Bundeskriminalamt und von dort an die Landeskriminalämter weitergeleitet worden. Es folgten zahlreiche Razzien und Festnahmen. Daraufhin wurden bundesweit mehr als 2.250 Ermittlungsverfahren eingeleitet und gut 750 Haftbefehle vollstreckt. Bei Durchsuchungen wurden insgesamt rund 3,2 Tonnen Cannabis, fast 400 Kilo Kokain und etwa 10 Kilo Heroin sichergestellt.
Justiz in anderen Bundesländern auch stark mit Encrochat-Verfahren beschäftigt
Auch in anderen Bundesländern arbeite die Justiz am Anschlag. So hat der Bremer Senat beispielsweise angesichts der massiven Mehrarbeit durch die Vielzahl sogenannter Encrochat-Verfahren gegen Drogendealer und Waffenhändler einer temporären personellen Verstärkung von Polizei und Justizbehörden zugestimmt. Befristet bis Ende 2025 sind für die Polizei zusätzlich 22 Stellen vorgesehen. Bei der Staatsanwaltschaft wird eine zusätzliche Abteilung mit zwölf Stellen eingerichtet, die "Encrochat-Kammer" am Landgericht wird temporär um fünf Stellen aufgestockt.
In Hamburg wird die Polizei und Justiz um 50 Stellen aufgestockt. Das Hamburger Landgericht führt pro Jahr im Schnitt 400 neue Fälle. Allein durch den Encro-Themen-Komplex seien 103 neue Verfahren hinzugekommen.
Sendung: Inforadio, 04.11.2021, 10:20 Uhr
Mit Material von Georg-Stefan Russew