Betreutes Wohnen - 111 Senioren der Josephinen-Anlage in Potsdam gekündigt

Der Betreiber begründet die Massenkündigung aller Senioren der Josephinen-Wohnanlage damit, dass er die Pflege nicht mehr zu wirtschaftlich vertretbaren Konditionen erbringen könne. Bewohner und Stadtpolitik sind schockiert. Von Efthymis Angeloudis
Das Essen schmeckt ihr nicht mehr und an Schlafen ist seit vergangenem Mittwoch auch nicht mehr zu denken. "Wie auch?", fragt Marianne (Name von der Redaktion geändert). Die 92-jährige Bewohnerin der Josephinen-Wohnanlage in Potsdam liest seit fast einer Woche den Brief des Betreibers des Seniorenheims wieder und wieder - "... leider sehen wir uns gezwungen, hiermit das zwischen uns bestehende Mietverhältnis auf Ihre vorgenannte Wohnung zum nächstzulässigen Zeitpunkt zu kündigen." Marianne schluckt nochmal: "Wir wollten eigentlich das Alter genießen, nachdem wir ein anstrengendes, turbulentes Leben hatten. So was kann ich wirklich nicht mehr gebrauchen."
Mit einem Brief wie diesem wurde letzten Mittwoch auch den restlichen 110 Bewohnern des Heims für betreutes Wohnen in der Potsdamer Burgstraße gekündigt. Die meisten Bewohner haben laut Informationen der "Märkischen Allgemeinen" [€] eine dreimonatige Kündigungsfrist - bis Ende Januar müssen alle 111 Senioren – viele von ihnen Ende 80 und Pflegefälle – in andere Unterkünfte umziehen.
Bauarbeiten wurden immer wieder verschoben
In dem Schreiben, das rbb|24 vorliegt, verweist Manfred Dreier-Gehle, Geschäftsführer des Betreibers Soziale Grundbesitzgesellschaft (SGG) Potsdam, einer Tochter der Gruppe MK-Kliniken aus Hamburg, darauf, dass Probleme mit dem Bau eines Speisesaals auf dem Grundstück der Anlage entstanden seien. "Der Stillstand der Bauarbeiten ist im Wesentlichen der Covid-19-Pandemie und ihren Folgen geschuldet". Wegen der Lockdowns seien die begonnenen Arbeiten, um den Speisesaal zu modernisieren und Tagespflegeplätze zu schaffen, "immer wieder verschoben worden". Die Bauarbeiten könnten unter den besonderen Sicherheitsvorkehrungen für die vulnerablen Bewohner somit nicht fortgeführt werden.
"Die Gründe sind fadenscheinig", meint Marianne gegenüber rbb|24. Der Kontakt mit den Bauarbeitern hätte den Bewohnern in Hinblick auf das Coronavirus geschadet, wird seitens des Betreibers behauptet. "Wir hatten keinen Kontakt. Wir haben ja nicht mal miteinander so viel Kontakt", empört sich die 92-Jährige, die in ihrer Wohnung betreut werden muss.
SPD, Grüne und Linke stellen Dringlichkeitsantrag
Auch die Stadtpolitik empört sich über die Kündigung der 111 Mieterinnen und Mieter der Josephinen-Wohnanlage. SPD, Grüne und Linke fordern zudem in einem Dringlichkeitsantrag Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) auf, die Betroffenen zu unterstützen. SPD-Fraktionsvorsitzende Sarah Zalfen sagte Antenne Brandenburg vom rbb am Dienstag, sie halte die Kündigungen für fragwürdig und verantwortungslos.
"Ein in dieser Größenordnung wirksames verantwortungsloses Agieren gegenüber Menschen, die in der Pandemie ohnehin mit besonderen Risiken konfrontiert und vielfach pflegebedürftig oder auf sich allein gestellt sind und die nun unverschuldet in eine mögliche Notlage kommen, ist empörend. Dies bildet eine Ausnahmesituation, in der die Stadt solidarisch die Betroffenen in ihren Rechten und bei der Abfederung ihrer Lage unterstützen muss", heißt es in der Begründung des Antrags.
Mit dem Antrag soll gesichert werden, dass die Bewohner ihre Rechte als Mieter wahrnehmen können. Zum anderen sei wichtig, dass die Rechtstreitigkeiten, die folgen, nicht auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen werden.
Betreiber will Bewohner auf Suche nach Pflegeplatz unterstützen
Ohne die Hilfe der Stadt dürfte sich die Suche nach einem neuen Zuhause schwierig gestalten. Einen Platz im Pflegeheim zu finden, ist selbst unter normalen Umständen nicht leicht - in Zeiten der Coronavirus-Pandemie und mit einer dreimonatigen Frist gilt das erst recht. Dazu kommen Nachrichten von Covid-19-Ausbrüchen in Senioren- und Pflegeheimen mit teils vielen Toten.
"Ich habe noch Verwandte die sich kümmern würden", sagt Marianne erleichtert. "Es gibt aber auch Menschen hier, die niemanden haben." Der Betreiber werde die Bewohner in der Suche eines Pflegeplatzes unterstützen, teilte die MK-Kliniken AG auf Anfrage von rbb|24 mit. Doch wie diese Hilfe konkret aussieht, wird nicht weiter beschrieben.
Der Betreiber der Wohnanlage hatte mit der Begründung gekündigt, er könne die Pflege "weder jetzt noch in Zukunft zu wirtschaftlich vertretbaren Konditionen" erbringen. Allerdings würden keine finanzielle Schäden durch den Betrieb der Wohnanlage entstehen, teilte die MK-Kliniken AG rbb|24 auf Anfrage mit. Nach der Schließung entstünden aber Stillstandskosten.
Wenn Investoren Pflegeheime entdecken
Pflegeheime sind für private Geldgeber ein lukratives Investment [tagesschau.de]. Denn mit der alternden Bevölkerung wächst auch der Bedarf an Pflegeplätzen und neuen Pflegeheimen. Laut dem Zentralen Immobilienausschuss werden bis Ende dieses Jahrzehnts bis zu 390 zusätzliche Einrichtungen benötigt. Das weckt auch verstärkt das Interesse privater Investoren. Nach Angaben des Immobilien-Dienstleisters CBRE wurden noch nie so viele Pflegeheime verkauft und gekauft wie im Corona-Jahr 2020. In Deutschland erhöhte sich das Transaktionsvolumen mit Gesundheitsimmobilien um 61 Prozent auf 3,4 Milliarden Euro.
Selbst Private-Equity-Gesellschaften tummeln sich inzwischen auf dem Milliardenmarkt. So wurden 2017 46 Heime der stationären Altenpflege der Hamburger MK-Kliniken AG an die französische Investorengruppe Chequers Capital verkauft [sueddeutsche.de].
Ausgezeichnete Lage im Herzen Potsdams
Als Marianne noch aus dem Haus kam, genoss sie die Spaziergänge in der Nähe des Hauses. "Die Anlage liegt direkt am Bahnhof Potsdam und an der Havel, keine zehn Schritte von der Brücke auf die Freundschaftsinsel", staunt sie immer noch. "Das ist ein Filet-Stück."
Auch der Betreiber rühmt sich auf seiner Internet-Seite mit der Lage des Grundstücks. "Mit viel Grün und Wasser drumherum – hier fühlen sich unsere Mieter wohl! Die ausgezeichnete Lage im Herzen Potsdams ermöglicht unkomplizierte Ausflüge und Besuche. Sie genießen kurze Wege zum Einkaufen und Flanieren vor allem auf der Freundschaftsinsel direkt an der Wohnanlage", wird das Haus angepriesen.
Ob das Grundstück der Josephine-Anlage nach dem Auszug der Bewohner verkauft oder anderweitig verwendet wird, habe die MK-Kliniken AG noch nicht entschieden, teilte man auf Anfrage von rbb|24 mit.
"Wissen sie, diese Einrichtung wurde nach dem Krieg für die Opfer des Faschismus gebaut. Nun scheint es mir, werden wir zu Opfern des Kapitalismus", meint Marianne.
Sendung: Inforadio, 02.11.2021, 13:40 Uhr