"System der Falschabrechnungen" - Landgericht stellt mutmaßlichen Pflege-Betrügern Bewährung in Aussicht

Di 30.11.21 | 18:28 Uhr | Von Ulf Morling
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Prozessauftakt gegen drei Frauen, die einen Pflegedienst betrieben, der Abrechnungsbetrug betrieb. (Quelle: rbb/U. Morling)
Bild: rbb/U. Morling

Um knapp 770.000 Euro soll ein Berliner Pflegedienst Bezirksämter und Pflegekassen betrogen haben. Als der Betrieb 2016 aufflog, wurde von "Pflegemafia" gesprochen. Zum Prozessauftakt wurden milde Strafen in Aussicht gestellt. Von Ulf Morling

Die Betreiberin eines ambulanten Pflegedienstes und ihre darin beschäftigte Mutter und Schwester sollen bandenmäßig jahrelang Berliner Bezirksämter und Pflegekassen betrogen haben - ab Januar 2013 mit einem "System der Falschabrechnungen". So lautet die Anklage.

Sie sollen sich teilweise gemeinsam mit sechs gesondert verfolgten Mitarbeiter*innen zu einer Bande zusammengeschlossen haben, "um Pflegeleistungen gegenüber den jeweiligen Kostenträgern abzurechnen, die nicht oder nicht in vollem Umfang erbracht worden sind", steht in der Anklage.

Mit bis zu 20 Patienten, die überwiegend Landsleute gewesen sein sollen, wurden laut Staatsanwaltschaft 39 Monate lang falsche Abrechnungen erstellt. Die Patienten sollen finanziell am Betrug beteiligt worden sein.

Um die drei Angeklagten zu überführen, waren im April 2016 Hausdurchsuchungen erfolgt - unter anderem in der Pflegedienstzentrale in Spandau, es gab Observationen und Telefonüberwachungen. Zum Prozessauftakt jetzt stellt das Landgericht milde Strafen in Aussicht, die zur Bewährung ausgesetzt werden können.

Was war passiert?

"Ich war der Dreh- und Angelpunkt in dem Pflegedienst", sagt zum Prozessauftakt die Hauptangeklagte Ekaterina S. (46). Ohne ihre Genehmigung als Inhaberin sei im Pflegedienst nichts gelaufen. Ihre mitangeklagte Mutter (72) habe Patienten betreut, Pflegeleistungen erbracht und ihre 41-jährige Schwester Karina N. (41) habe unter anderem die Post des Pflegedienstes erledigt.

Von den jahrelangen "Unregelmäßigkeiten" hätten ihre mitangeklagten Familienangehörigen nichts gewusst. Alle drei beriefen sich zum Prozessauftakt auf große Gedächtnislücken. "Im Kern" würden die Vorwürfe allerdings zutreffen, sagten die beiden Töchter und ihre mitangeklagte Mutter aus.

Mutmaßlicher Betrug mit falschen Patient*innen

Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft waren von den drei Angeklagten und sechs gesondert verfolgten Mitarbeiter*innen vor allem "Patient*innen" aus dem russischsprachigen Raum betreut worden. Für die Begutachtung für eine Pflegestufe durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) sollen die betreuten Senior*innen entsprechend instruiert und deren Wohnung mit Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln ausgestattet worden sein.

"Man darf nicht wissen, was Du alles selber kannst, sonst nehmen sie Dir die Pflegestufe wieder weg", sagte die hauptangeklagte Chefin des Pflegedienstes am Telefon zu einem Patienten, wie die fast einjährige Telefonüberwachung durch die Polizei später offenbarte.

Für das "Mitspielen" beim Betrug durch den Pflegedienst wurden die Senior*innen mit sogenannten "Kickbackzahlungen" von bis zu mehreren Hundert Euro jeweils am Monatsende beteiligt. Auch Gespräche darüber wurden bei der Telefonüberwachung abgehört.

Festnahme bei Großeinsatz 2016

Bei einer Razzia Im April 2016 durchsuchten 112 Polizisten das Anwesen der hauptangeklagten Pflegedienstbetreiberin, weitere 29 Wohnungen und zwei Häuser in Brandenburg. Auch ihre Schwester und Mutter waren im Visier der Fahnder. Bei der Auswertung der umfangreichen Beweismittel stellten die Ermittler fest, dass über jeden der 20 mutmaßlichen Patienten um die 2.000 Euro monatlich abgerechnet worden waren und der Pflegedienst bei dem Abrechnungsbetrug die Patienten mitkassierten.

Ab 28. April 2016 galten die beiden Schwestern und ihre Mutter als Beschuldigte. Ein Jahr nach der Razzia legte der Ermittlungsführer des Landeskriminalamtes seinen Schlussbericht vor, aber erst knapp zweieinhalb Jahre nach der Razzia, im August 2018, wurde Anklage erhoben. Unter anderem aufgrund der schlecht ausgestatteten Berliner Justiz kommt es zum Prozessbeginn noch einmal über drei Jahre später.

Das bedeute einen Strafnachlass von drei bis fünf Monaten für die Angeklagten, so die Vorsitzende Richterin am ersten Prozesstag. Die jahrelangen Abstände im Verfahren, in denen nichts geschah, seien als rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen zu bewerten.

700.000 Euro Schaden - trotzdem Bewährungsstrafe?

Im Vorfeld des ursprünglich von manchem im Mafiaumfeld vermuteten Betruges waren Haftstrafen von bis zu zehn Jahren gemutmaßt worden für den jahrelangen sechsstelligen Euro-Betrug an Sozialkassen und Berliner Bezirksämtern. Doch das jahrelange Warten auf den Prozess gegen die drei Angeklagten und ihre sechs mutmaßlichen Kompliz*innen macht den Prozess schwierig.

Akribisch und beweissicher geführte Ermittlungen müssen im Prozess - mit dem Prinzip der Mündlichkeit - konkret bestätigt werden. Doch die Zeit lässt das Erinnerungsvermögen der Zeug*innen leiden. So zieht sich durch das für eine geringere Strafe geforderte "umfassende Geständnis" bei den Angeklagten immer wieder eine Aussage: "An viele Dinge kann ich mich nicht mehr erinnern."

Die 37. Große Strafkammer hat mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft zum Prozessauftakt den drei Angeklagten Strafen von bis zu höchstens zwei Jahren in Aussicht gestellt - für ein umfassendes Geständnis. Es wäre also möglich, für die drei wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in Höhe von 687.000 Euro Angeklagten sogar eine Bewährungsstrafe auszusprechen.

Das Urteil soll kurz vor Weihnachten, am 21.Dezember, fallen.

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Beitrag von Ulf Morling

13 Kommentare

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  1. 13.

    Ich empfinde den MDK als Werkzeug zur Kostenreduzieung: Anträge auf Pflegegrad estmal durchrasseln lassen und bei erfolgreichen Widerspruchsverfahren l a n g s a m "handeln", bis die Antragstellenden im Jenseits sind = biologische Lösung.

  2. 12.

    Die Begutachtung vom MDK sind Bürokratismus pur. Fragen stellen , Antwort in eine Skala eintragen, Punkte zusammenzählen. = Pflegegrad. Zu wenig Punkte kein Pflegegrad oder zu niedrieger Pflegegrad. Da kann mann das Instruieren schon verstehen. Nicht weil man betrügen will sondern weil das "System" der Begutachtung falsche Ergebnisse liefert die mit der Realität der zu pflegenden Personen nicht übereinstimmt. Von der Selbstüberschätzung und nicht wahrhaben wollenden Hilflosigkeit mal abgesehen.

  3. 11.

    Mein Kommentar war eher sarkastisch gemeint.
    Aber Danke für die Info ... war mir so eindeutig nicht bekannt.
    Dann hoffen wir mal, dass wenigstens einiges Geld "zurückfließt".

  4. 10.

    Sie sollten vielleicht mal die Begründung für das Bewährungsangebot lesen!! Allein wegen der Prozessdauer wird dieses Angebot gemacht. Zurückzahlen werden diese Ganoven kaum etwas, oder glauben Sie daran. Außerdem hatte ich auf andere Straftäter verwiesen, zahlen die auch etwas zurück????

  5. 9.

    Ein Anwalt hat vor Gericht nichts zu sagen. Er kann nur Anträge stellen, die das Gericht ablehnen kann.
    Das Urteil fällen die Berufsrichter und die Schöffen. Übrigens haben Schöffen dir gleichen Rechte und Pflichten wie die Richter im Verfahren.

    Für die Gesellschaft macht Strafvollzug nicht immer Sinn. Oder ist einsperren besser als Schadenersatz oder Schmerzensgeld für Opfer?

    Leider posaunen viele Bürger etwas heraus ohne Ahnung zu haben

  6. 8.

    Bewährung hat oft Sinn, denn dann kann die Schadenwiedergutmachung zur Auflage gemacht werden. Übrigens haben Anwälte vor Gericht genau definierte Rechte und windige Anwälte können vor Gericht nicht ausrichten. Das Urteil sprechen die Berufsrichter und die Schöffen

  7. 7.

    Es wird Zeit, dass mehr Gerechtigkeit in die Pflegeversicherung kommt. So werden Patienten, die sich für das Pflegegeld entschieden haben, schlechter behandelt als Patienten, die sich für eine Versorgung durch den Pflegedienst entschieden haben.
    Es wird Zeit, dass die Pflegeversicherung endlich von einer Teilkasko in eine Vollkasko umgewandelt wird.

    Die Dame sollte Bewährung bekommen mit der Auflage der Schadenwiedergutmachung. Haft kostet nur Geld.

  8. 6.

    Zu Bewährung ausgesetzt und milde Strafen. Das ist das Problem in unserer Strafverfolgung und die Betroffenen wissen das ganz genau. Dazu noch einige zweifelhafte, windige RA und die Sache ist perfekt. Deshalb kommen alle auch gern wieder , Drogenschmuggler, Dealer, Autodiebe usw.

  9. 5.

    Das darf ja wohl nicht wahr sein. Da werden Betrüger noch belohnt für das Ausbeuten der Pflegekassen und kommen augenscheinlich mit Bewährung davon?
    Da fällt mir nur eines ein
    "ARMES DEUTSCHLAND" .

  10. 4.

    Schulden, die aus strafbaren Handlungen entstanden sind, fallen nicht unter die Privatinsolvenz.

  11. 3.

    Das die Kammer Bewährung in Aussicht gestellt hat, ist sehr gut. Denn so kann man den Schadenersatz als Bewährungsauflage machen.

  12. 2.

    Das sind bestimmt nicht die Einzigen,
    die das so machten und machen.
    In der Pflegebranche tummeln sich viele schwarze Schafe.
    Aber diese große Summe und dann Bewährung, dass macht mich schon fassungslos. Und dann die lange Zeit bis Anklage erhoben worden ist.
    Was ich mich Frage, ob die weiter als Pflegedienst gearbeitet haben oder ob die Anspruch auf Hartz IV haben?
    In jedem Fall zahlen die ehrlichen Leute deren Auskommen. Wenn ich sehe, was alles abgezogen wird von meinem Brutto.

  13. 1.

    Dürfen die Angeklagten während ihrer Bewährungsstrafe dann auch noch Privatinsolvenz anmelden und müssen dann auch kaum Rückzahlungen leisten?
    Würde ja irgendwie zu dem Ganzen passen.
    Wo soll das alles nur hinführen?

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