"System der Falschabrechnungen" - Landgericht stellt mutmaßlichen Pflege-Betrügern Bewährung in Aussicht
Um knapp 770.000 Euro soll ein Berliner Pflegedienst Bezirksämter und Pflegekassen betrogen haben. Als der Betrieb 2016 aufflog, wurde von "Pflegemafia" gesprochen. Zum Prozessauftakt wurden milde Strafen in Aussicht gestellt. Von Ulf Morling
Die Betreiberin eines ambulanten Pflegedienstes und ihre darin beschäftigte Mutter und Schwester sollen bandenmäßig jahrelang Berliner Bezirksämter und Pflegekassen betrogen haben - ab Januar 2013 mit einem "System der Falschabrechnungen". So lautet die Anklage.
Sie sollen sich teilweise gemeinsam mit sechs gesondert verfolgten Mitarbeiter*innen zu einer Bande zusammengeschlossen haben, "um Pflegeleistungen gegenüber den jeweiligen Kostenträgern abzurechnen, die nicht oder nicht in vollem Umfang erbracht worden sind", steht in der Anklage.
Mit bis zu 20 Patienten, die überwiegend Landsleute gewesen sein sollen, wurden laut Staatsanwaltschaft 39 Monate lang falsche Abrechnungen erstellt. Die Patienten sollen finanziell am Betrug beteiligt worden sein.
Um die drei Angeklagten zu überführen, waren im April 2016 Hausdurchsuchungen erfolgt - unter anderem in der Pflegedienstzentrale in Spandau, es gab Observationen und Telefonüberwachungen. Zum Prozessauftakt jetzt stellt das Landgericht milde Strafen in Aussicht, die zur Bewährung ausgesetzt werden können.
Was war passiert?
"Ich war der Dreh- und Angelpunkt in dem Pflegedienst", sagt zum Prozessauftakt die Hauptangeklagte Ekaterina S. (46). Ohne ihre Genehmigung als Inhaberin sei im Pflegedienst nichts gelaufen. Ihre mitangeklagte Mutter (72) habe Patienten betreut, Pflegeleistungen erbracht und ihre 41-jährige Schwester Karina N. (41) habe unter anderem die Post des Pflegedienstes erledigt.
Von den jahrelangen "Unregelmäßigkeiten" hätten ihre mitangeklagten Familienangehörigen nichts gewusst. Alle drei beriefen sich zum Prozessauftakt auf große Gedächtnislücken. "Im Kern" würden die Vorwürfe allerdings zutreffen, sagten die beiden Töchter und ihre mitangeklagte Mutter aus.
Mutmaßlicher Betrug mit falschen Patient*innen
Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft waren von den drei Angeklagten und sechs gesondert verfolgten Mitarbeiter*innen vor allem "Patient*innen" aus dem russischsprachigen Raum betreut worden. Für die Begutachtung für eine Pflegestufe durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) sollen die betreuten Senior*innen entsprechend instruiert und deren Wohnung mit Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln ausgestattet worden sein.
"Man darf nicht wissen, was Du alles selber kannst, sonst nehmen sie Dir die Pflegestufe wieder weg", sagte die hauptangeklagte Chefin des Pflegedienstes am Telefon zu einem Patienten, wie die fast einjährige Telefonüberwachung durch die Polizei später offenbarte.
Für das "Mitspielen" beim Betrug durch den Pflegedienst wurden die Senior*innen mit sogenannten "Kickbackzahlungen" von bis zu mehreren Hundert Euro jeweils am Monatsende beteiligt. Auch Gespräche darüber wurden bei der Telefonüberwachung abgehört.
Festnahme bei Großeinsatz 2016
Bei einer Razzia Im April 2016 durchsuchten 112 Polizisten das Anwesen der hauptangeklagten Pflegedienstbetreiberin, weitere 29 Wohnungen und zwei Häuser in Brandenburg. Auch ihre Schwester und Mutter waren im Visier der Fahnder. Bei der Auswertung der umfangreichen Beweismittel stellten die Ermittler fest, dass über jeden der 20 mutmaßlichen Patienten um die 2.000 Euro monatlich abgerechnet worden waren und der Pflegedienst bei dem Abrechnungsbetrug die Patienten mitkassierten.
Ab 28. April 2016 galten die beiden Schwestern und ihre Mutter als Beschuldigte. Ein Jahr nach der Razzia legte der Ermittlungsführer des Landeskriminalamtes seinen Schlussbericht vor, aber erst knapp zweieinhalb Jahre nach der Razzia, im August 2018, wurde Anklage erhoben. Unter anderem aufgrund der schlecht ausgestatteten Berliner Justiz kommt es zum Prozessbeginn noch einmal über drei Jahre später.
Das bedeute einen Strafnachlass von drei bis fünf Monaten für die Angeklagten, so die Vorsitzende Richterin am ersten Prozesstag. Die jahrelangen Abstände im Verfahren, in denen nichts geschah, seien als rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen zu bewerten.
700.000 Euro Schaden - trotzdem Bewährungsstrafe?
Im Vorfeld des ursprünglich von manchem im Mafiaumfeld vermuteten Betruges waren Haftstrafen von bis zu zehn Jahren gemutmaßt worden für den jahrelangen sechsstelligen Euro-Betrug an Sozialkassen und Berliner Bezirksämtern. Doch das jahrelange Warten auf den Prozess gegen die drei Angeklagten und ihre sechs mutmaßlichen Kompliz*innen macht den Prozess schwierig.
Akribisch und beweissicher geführte Ermittlungen müssen im Prozess - mit dem Prinzip der Mündlichkeit - konkret bestätigt werden. Doch die Zeit lässt das Erinnerungsvermögen der Zeug*innen leiden. So zieht sich durch das für eine geringere Strafe geforderte "umfassende Geständnis" bei den Angeklagten immer wieder eine Aussage: "An viele Dinge kann ich mich nicht mehr erinnern."
Die 37. Große Strafkammer hat mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft zum Prozessauftakt den drei Angeklagten Strafen von bis zu höchstens zwei Jahren in Aussicht gestellt - für ein umfassendes Geständnis. Es wäre also möglich, für die drei wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betruges in Höhe von 687.000 Euro Angeklagten sogar eine Bewährungsstrafe auszusprechen.
Das Urteil soll kurz vor Weihnachten, am 21.Dezember, fallen.
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