Schulprojekt in Berlin - Am Gymnasium Inklusion lernen

Gymnasien wird oft vorgeworfen, das Thema Inklusion anderen Schularten zu überlassen. Ein Berliner Gymnasium nimmt dagegen seit rund einem Jahr auch Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung auf. Von Kirsten Buchmann
Gruppenarbeit in Deutsch am Hans-Carossa-Gymnasium in Spandau. Fünf Siebtklässler stehen zusammen. Sie nehmen mit einem Smartphone einen Podcast auf. Mit verteilten Rollen sprechen sie die widerstreitenden inneren Stimmen einer Romanfigur. Als erstes legt Tom die Reihenfolge fest und erklärt seiner Gruppe, wie es geht: "Du fängst an, dann ist Manuel dran, dann ich, Ana und Anna, alles in einer Sprachnachricht nacheinander."
Gegenseitig helfen
Manuel ist in seiner Klasse eines der drei Inklusionskinder mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Als er kurz stockt und suchend schaut, tippt seine Mitschülerin auf das Textblatt, damit er die richtige Zeile findet. Manuel ist froh, auf diesem Gymnasium und in dieser Klasse zu sein: "Ich habe gerade gesehen, wenn ich beim Lesen oder beim Schreiben Hilfe brauche, dann melde ich mich mal und dann wird mir geholfen. Das ist ganz wichtig." Umgekehrt unterstütze Manuel auch sie, sagt Ana: "Zum Beispiel ist er in Geschichte richtig gut, Mittelalter, Bauern, Grundherren und sowas."
Die Inklusionsschüler übernehmen aber auch mal eine separate Aufgabe, wie im Geographieunterricht ein Modell zu bauen. Außerdem erhalten sie lebenspraktischen Unterricht: wie fahre ich Bus, wie gehe ich einkaufen oder was bedeutet Geld. An zwei Schultagen pro Woche lernen sie in einer kleinen Gruppe. Den meisten Unterricht haben die drei Inklusionskinder aber gemeinsam mit den anderen. Schulleiter Henning Rußbült ist es ganz wichtig, "dass in unseren Klassen potenzielle künftige Führungskräfte lernen, wie geht Inklusion", damit sie als spätere Entscheidungsträgerinnen und -träger wüssten, "wie integriere ich diese Menschen in die Arbeitswelt."
Hohe Akzeptanz
Die Eltern akzeptieren das Modell, sagt Rußbült. "Wir haben in diesem Jahr die höchste Nachfrage für diese Klasse gehabt." 54 Anmeldungen gab es für 21 Plätze. Bisher hat sein Gymnasium insgesamt ein halbes Dutzend Inklusionsschüler, verteilt auf eine siebte und eine achte Klasse. Henning Rußbült würde gerne mehr solcher Klassen einrichten, eine pro Jahrgang, am Ende also vier Klassen. Nötig dafür seien jeweils genügend Kolleginnen, um das zu unterstützen, was allerdings Geld kostet. "Die Infrastruktur muss stehen, dass man Sonderpädagoginnen bekommt, pädagogische Unterrichtshilfen und Betreuerinnen. Das habe ich den Kolleginnen auch versprochen, dass sie nicht allein in diesen Klassen stehen."
Manuels Deutschlehrerin Anna Mennekes unterrichtet an diesem Morgen nicht alleine, sondern mit einer Sonderpädagogin an ihrer Seite. Die Lehrerin lässt die Gruppen ihre Podcasts vortragen und lobt die Ergebnisse. Anfangs, als sie die Klasse mit den drei Inklusionskindern übernommen habe, sei sie in ihrem Bekanntenkreis gefragt worden, ob die anderen da nicht zu wenig lernten. Das Gegenteil sei der Fall: "Die Schülerinnen und Schüler sind teilweise als Lernpaten eingesetzt." Das heißt, sie erklären und vertiefen dabei immer wieder den Stoff.
Gymnasien nicht raushalten
Schulleiter Henning Rußbült will die Inklusion ausdrücklich nicht nur den Sekundarschulen mit ihrer ohnehin schon heterogenen Schülerschaft überlassen: "Ich finde Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Da kann sich meiner Meinung nicht eine Schulform raushalten und sagen, wir machen eine exzellente Ausbildung."
Manuel ist stolz, Teil des Projektes am Hans-Carossa-Gymnasium zu sein, wo er sogar gleich zum Klassensprecher gewählt wurde: "Was ich mir wünschen würde, wäre, dass man dieses Projekt an allen Gymnasien fortsetzt."
Bisher ist das allerdings nicht in Sicht. Beim gemeinsamen Unterricht für die Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist sein Gymnasium Vorreiter.