Wölfe in Berlin - Die Durchreisenden

30 Kilometer vom Alexanderplatz entfernt hat sich ein Wolfsrudel niedergelassen. Noch nie trauten sich die Tiere dauerhaft so nah an Berlin heran. Wird der Wolf hier nun heimisch? Nein, schätzen Experten. Doch begegnen könnte man dem Wildtier. Von Kira Pieper
Sie wurde von niemandem bemerkt, als sie im Januar 2020 zwischen Schönefelder Kreuz und Zeuthen nach Berlin kam. Hunderte Kilometer war sie gelaufen, dementsprechend erschöpft und auf der Suche nach einem Platz zum Ausruhen. Diesen Platz fand sie im Grünauer Forst, im Unterholz nahe eines Waldwegs. "Dort hätte man die Wölfin leicht entdecken können", sagt Derk Ehlert, Wildtierexperte der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt. Aber das damals knapp zwei Jahre alte Tier versteckte sich gut, hinterließ keine Spuren und es gab keine Risse.
Vermutlich wäre sie auch niemandem aufgefallen, wäre sie nicht im Juli 2019 mit einem GPS-Halsband ausgestattet worden. "Juli" hieß die Fähe seitdem, Forscher verfolgten sie auf Schritt und Tritt und stellten fest, wie umtriebig das Tier war: Geboren in Sachsen, kleine Abstecher nach Polen, dann in Brandenburg und schließlich querte sie mehrfach die Autobahn, ehe sie die Berliner Stadtgrenze passierte. Vier Tage verweilte sie hier. Ehe sie weiterwanderte und sich letztendlich nahe Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) niederließ. Seit Jahren schon kreuzen Wölfe immer mal wieder Berlin, ohne aufzufallen, wie Ehlert sagt. Doch "Juli" war der erste tatsächliche Wolfsnachweis auf dem Boden der Hauptstadt.
Wolfsrudel in der Döberitzer Heide
Kurze Zeit später dann ähnliche Wolfsmeldungen aus anderen Teilen der Bundesrepublik: Im März 2021 lief ein sichtlich gestresster Wolf tagsüber durch die 25.000-Einwohner-Stadt Lohne in Niedersachsen und wurde gefilmt. Im Mai dieses Jahres dann die Meldung aus Köln-Ehrenfeld: Dort bemerkten mehrere Menschen in der Nacht einen durch die Stadt streifenden Wolf.
Im Oktober 2021 kam die nächste Sensationsmeldung: In der Döberitzer Heide hatte sich erstmals ein Wolfsrudel niedergelassen. Aufgefallen war auch das nur, weil die zwei Elterntiere mit ihren vier Welpen in eine Fotofalle getappt waren. Nur rund 30 Kilometer ist ihr Aufenthaltsort vom Alexanderplatz in der Mitte Berlins entfernt. Noch nie zuvor hatten sich Wölfe so nah an Berlin niedergelassen und dann auch noch auf so kleinem Territorium.
Zu eng, zu laut, zu wenig Futter in Berlin
Kommt der Wolf nun dauerhaft in die Hauptstadt? Immerhin entwickeln sich die Populationen in Brandenburg aktuell schnell. 2019/20 zählte die Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf 47 Rudel in Brandenburg. Damit gab es in dem Bundesland die meisten Wolfsrudel deutschlandweit. Mit der Anzahl der Wölfe steigt auch die Anzahl der Wolfsrisse. Es wird offenbar langsam eng auf der brandenburgischen Landkarte für die Tiere.
Dennoch glaubt Wildtierexperte Ehlert nicht, dass sich der Wolf nun auch auf Berliner Stadtgebiet niederlassen wird: Es sei zu eng, zu laut, gebe zu wenig Futter, so Ehlert. Zwar könne beobachtet werden, dass sich Wildschweine und Füchse mehr und mehr in der Stadt aufhielten und sich auch anpassten. Auf den Wolf sei dieses Verhalten aber nicht ohne Weiteres übertragbar. Denn er habe eine ganz andere Lebensweise. Er brauche viel Platz und jage vornehmlich Rotwild. Währenddessen der Fuchs eher ein Sammler sei. Und auch das Wildschwein sei bei der Nahrungssuche eher genügsam. "Ich kann natürlich nicht sagen, was in 100 Jahren sein wird", so Ehlert. Vielleicht passe sich der Wolf also doch noch an.
Doch auch ohne Wolfsansiedlungen seien Begegnungen mit dem Wildtier bereits jetzt wahrscheinlich, so Ehlert. Denn Wölfe brauchen zwar Orte, an denen sie sich zurückziehen könnten. "Aber sie denken auch effizient. Sie nutzen deswegen Wege und Straßen um voranzukommen. Und Straßen sind auch attraktiv, weil dort angefahrene Rehe oder Aas liegen können."
Der Wolf meidet weltweit Städte
Christian Hönig, Referent für Naturschutz beim Bund für Umwelt- und Naturschutz (BUND), sieht das ähnlich. Vor allem wenn die Welpen aus der Döberitzer Heide flügge werden, könne es gut sein, dass sie auf der Suche nach einem eigenen Revier mal in Berlin vorbeischauten, sagt er. Aber dann – wie "Juli" einst – weiterziehen. "Der Wolf ist eben heimlich und mag keinen Trubel", so Hönig. Dass sich die Tiere dauerhaft auf Berliner Boden niederlassen, und wie Füchse heimisch werden, glaubt auch er nicht. Denn auch in anderen Bereichen auf der Welt, wie den USA, Italien und Skandinavien, wo der Wolf schon wesentlich verbreiteter sei als in Deutschland, sei er nicht in Städten anzutreffen. Anders als der Bär. Dieser sei auf Müllhalden und an Mülltonnen ein häufiger Gast. "Der Wolf aber nicht", so der Experte.
Wildtierexperte Derk Ehlert verweist zudem darauf, dass es in Deutschland noch genügend attraktive Orte gebe, wo sich Wölfe niederlassen könnten. Unter anderem die bayerische Alpen, Gebiete entlang der tschechischen Grenze, Mittelgebirge und Norddeutschland. "Solange es noch freie Reviere gibt, wird er sich noch ausbreiten." Und selbst wenn es eng werde, könne das die Natur regeln. Wenn der Stress zunehme, würden weniger Nachkommen geboren werden, erklärt Ehlert. Zu beobachten sei das bereits im ebenfalls dicht vom Wolf besiedelten Sachsen.
Auch Berlin hat ein Wolfsmanagement
"Wir müssen lernen wieder mit dem Wolf zu leben", schlussfolgert Ehlert. Sollten die Probleme – zum Beispiel mit Tierrissen – in Berlin zunehmen, gibt es wie in anderen Bundesländern auch ein Wolfsmanagement. Hierhin können sich Betroffene bei Schäden wie Nutztierrissen melden. Bislang habe es auf Berliner Boden zwar schon etliche Meldungen gegeben, sagt der Experte. Sachverständige hätten dann aber nicht bestätigen können, dass es sich um einen Wolf gehandelt habe. Auch vermeintliche Wolfsichtungen seien in Berlin schon oft vorgekommen. Nachforschungen hätten dann allerdings ergeben, dass es sich um freilaufende Hunde gehandelt habe, so Ehlert.
Aber wie soll man sich verhalten, wenn man einem Wolf begegnet? "Sich langsam entfernen, nicht den Rücken zudrehen und nicht weglaufen", rät Ehlert. "Und auf sich aufmerksam machen: laut rufen, in die Hände klatschen. Sich auf keinen Fall nähern oder das Tier anlocken." Habe man einen Hund dabei, solle man diesen kurz an der Leine halten. Der Wunsch des Wildtierexperten ist außerdem, für die Dokumentation ein Foto zu machen.
Ehrenamtliche Wolfsbotschafter klären auf
Tipps rund um den Wolf geben auch speziell geschulte Wolfsbotschafter vom Naturschutzbund (Nabu). 300 gibt es bundesweit, Christine Kuhnert ist eine von ihnen und für Berlin zuständig. Sie ist ehrenamtlich tätig und wie ihre Kolleginnen und Kollegen speziell geschult, hält Vorträge und informiert in Schulen und Kitas über die Rückkehr der Tiere und erklärt, wie der Mensch mit ihnen leben kann und wie er sich bei Begegnungen verhalten sollte. "Meinen Kindergruppen sage ich immer: Es gibt kein Tier auf der ganzen Welt, das irgendwo auf der Lauer liegt und auf Rotkäppchen wartet." Momentan sei die Nachfrage nach Vorträgen und Schulungsangeboten in Berlin rückläufig, berichtet sie. Vielleicht ändert sich das bei zunehmenden Wolfsichtungen ja wieder.
Ein Wiedersehen mit "Juli" ist allerdings ausgeschlossen. Die Fähe starb im Mai dieses Jahres während ihrer ersten Geburt. Sie wurde knapp drei Jahre alt.
