Kasachische Community in Berlin - "Man kann fast sagen, es sind russische Kräfte in Kasachstan einmarschiert"

Der Präsident in Kasachstan hat der Polizei einen Schießbefehl gegen Demonstranten erteilt. Für die kasachische Community in Berlin sind dies Tage voller Sorgen. Auch Experten befürchten das Schlimmste. Von Efthymis Angeloudis und Marie Steffens
"Don’t shoot" steht auf einem eineinhalb Meter großen Plakat, das eine Demonstrantin am Freitagnachmittag auf dem Pariser Platz in Berlin vor sich trägt - "Schießt nicht". Eine Aufforderung an Qassym-Schomart Toqajew, den Präsidenten von Kasachstan, der nur wenige Stunden zuvor die Sicherheitskräfte der ehemaligen Sowjetischen Republik angeordnet hatte, bei weiteren Unruhen ohne Vorwarnung auf Demonstranten zu schießen [tagesschau.de].
Das kasachische Innenministerium teilte am Freitag mit, bei den Unruhen, die seit Anfang der Woche hauptsächlich die Millionenstadt Almaty heimsuchen, seien 26 Demonstranten getötet und 26 verletzt worden. Mehr als 3.800 Menschen wurden den Angaben zufolge festgenommen. Darüber hinaus seien 18 Polizeibeamte getötet und mehr als 700 verletzt worden. Die Zahlen konnten nicht von unabhängiger Seite überprüft werden.
Wut der Demonstranten auf den ehemaligen Präsidenten
Das zentralasiatische Land wird seit Tagen von beispiellosen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften erschüttert. Proteste, die sich zunächst gegen steigende Gaspreise gerichtet hatten, weiteten sich zu regierungskritischen Massenprotesten im ganzen Land aus. Die Wut der Demonstranten richtet sich auch gegen den autoritären Ex-Präsidenten Nursultan Nasarbajew, der weiterhin als höchst einflussreich gilt.
Waldemar Masson zeigt sich überrascht, dass die Lage so ausgeartet ist. Kasachstan sei eigentlich ein friedliches Land, sagt er auf der Demo in Berlin. Seine Eltern sind vor fast 30 Jahren von Kasachstan in die deutsche Hauptstadt gekommen. Sein Eindruck: Die Armut im Land ist größer geworden. "Dadurch, dass man eh schon arm ist und alles teurer wird, denke ich, dass bei vielen der Geduldsfaden gerissen ist."
Expertin: Soziale Spaltung enorm zugenommen
Auch Beate Eschment zeigt sich überrascht von den Protesten und der Gewalt, die das kasachische Almaty erschüttern. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa und internationalen Studien in Berlin beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit Kasachstan. "Mir war bekannt, dass sich in Kasachstan eine große Unzufriedenheit und Ungeduld angestaut hat", sagt sie rbb24. "Aber ich bin schon erstaunt gewesen, was dann jetzt in den letzten Tagen passiert ist." Die Demonstranten hätten wirtschaftliche wie auch politische Forderungen, die darauf beruhten, dass sich Kasachstan in den letzten Jahren ökonomisch nicht mehr so positiv wie zuvor entwickelt habe.
Durch die sinkenden Ölpreise und nun auch Corona, sagt Eschment weiter, habe sich die Lage der Mittelschicht, die sich in Kasachstan in einem kleinen Maße entwickelt habe, und auch die der ärmeren Schichten erheblich verschlechtert. "Was natürlich zu Unzufriedenheit führt und auch zu Überlegungen, ob das System, so wie es besteht, politisch in Ordnung ist."
Gerade in den vergangenen Jahren habe die soziale Spaltung zwischen den ganz Armen und den sehr Reichen enorm zugenommen, sagt die Wissenschaftlerin. "Wenn einerseits Mütter nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen und andererseits die reiche Elite nicht zögert, ihren Reichtum offen auszuleben, führt das zu erheblicher Unzufriedenheit."
Toqajew: Keine Verhandlungen mit Kriminellen und Mördern
Forderungen nach Gesprächen mit den Demonstranten bezeichnete der Präsident Kasachstans als Unsinn. "Welche Verhandlungen kann man mit Kriminellen und Mördern führen", sagte Toqajew am Freitag. Die einzige Option, die den Demonstranten offen stehe, sei sich zu ergeben. "Diejenigen, die sich nicht ergeben, werden eliminiert", fügte der Präsident hinzu.
Auch Julia Boxler erfährt von dieser Gewalt. Die Journalistin wurde in Kasachstan geboren und kam mit zehn Jahren nach Deutschland. Seit Mittwoch sitzt sie die ganze Zeit am Computer oder am Telefon, wie sie erzählt. Und versucht, ihre Verwandten zu erreichen. "Ich konnte gestern meinen Großvater erreichen, der in einem Krankenhaus liegt. Andere Verwandte konnte ich nicht erreichen."
Julias Großvater ist in Sicherheit. Befreundete Journalisten und Aktivisten haben der 35-Jährigen dagegen von gefährlichen Situationen erzählt. "Es wurde berichtet von Demonstrationen, wo Menschen Banner mit Plakaten trugen wie 'Wir sind das Volk, nicht Terroristen' und solche Art von Protesten wurden angegriffen, mit scharfer Munition." Und das, so Boxler, ohne jegliche Vorwarnung.
Hoffnungen nach Rücktritt Nasarbajews enttäuscht
Schon seit Jahren werde in Kasachstan immer wieder demonstriert, sagt Boxler. Viele hätten Hoffnungen gehabt, als der alte Präsident Nasarbajew 2019 durch Toqajew ersetzt worden sei. Bisher sei aber nichts besser geworden. Im Gegenteil, die Repressionen hätten zugenommen.
"Die Bevölkerung hat ganz offensichtlich darauf gewartet, dass quasi mit seinem Abtreten oder Ableben von Nasarbajew sich bezüglich Reformen in Kasachstan etwas tut", sagt Boxler. Aber jetzt seien viele so langsam mit ihrer Geduld am Ende.
Nasarbajev trat 2019 zurück. "Das Ganze war aber ein geplanter und orchestrierter Rücktritt", sagt Wissenschaftlerin Eschment. "Er hat also selber vorgeschlagen, wer sein Nachfolger war." Dabei hat der ehemalige Präsident weiterhin entscheidende Staatsämter eingenommen.
Toqayew sei keine selbständig agierende Figur, sondern im Hintergrund sei Nasarbajew noch im Gange, so Eschment. "Deshalb haben die Demonstranten auch sehr schnell gerufen: 'Alter, hau ab!'"
Russland von Instabilität in Kasachstan bedroht
"Toleranz ist kein Merkmal des politischen Systems Kasachstans", sagt Eschment. Sobald sich mehrere Menschen öffentlich auf die Straße gestellt und nur ein Plakat hochgehalten hätten, habe das schon gereicht, um wirklich ernsthafte Probleme zu bekommen, so die Forscherin. Das Toqajew jetzt aber tatsächlich ausländische Kräfte ins Land gerufen habe, sei schockierend.
Dabei handele es sich mit der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) [tagesschau.de] zwar um ein Bündnis mehrerer Staaten, aber es sei nun mal von russischer Seite geführt. "Von daher kann man schon fast sagen, es sind russische Kräfte in Kasachstan einmarschiert."
Russland fühle sich natürlich in stärkerem Maße davon bedroht, wenn in Kasachstan Instabilität herrsche, weil man ständig in der Angst lebe, dass Extremisten oder Terroristen über die die Grenzen kommen könnten, sagzt Eschment. Sie selbst habe aber bisher noch nie etwas von Extremisten und Terroristen in Kasachstan gehört. Vielmehr handele es sich dabei um eine Schuldzuschreibung, die es einem einfach mache, zu sagen, dass die Demonstranten aus dem Ausland gesteuert würden.
Toqajews Äußerungen machen Eschment Angst, wie sie sagt. Sein hartes Eingreifen soll die Ruhe im Land wiederherstellen [tagesschau.de]. "Aber damit ist ja nicht ein einziges Problem gelöst."
Sendung: Inforadio, 08.01.2021, 08:00 Uhr
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