Akademie-Empfehlungen fürs Gesundheitswesen - Mehr Prävention, weniger Bürokratie - und ordentlich Geld fürs Digitale

Die Corona-Pandemie ist der Stresstest für das Gesundheitswesen in Berlin und Brandenburg. Defizite in der Organisation oder bei der Digitalisierung treten klarer zutage. Wissenschaftler haben nun Empfehlungen für Verbesserungen vorgelegt. Von Lena Petersen
Das Gesundheitswesen ächzt unter den Belastungen durch die Corona-Pandemie. Veraltete Strukturen und Digitalisierungslücken tragen ihren Teil dazu bei. Um die Gesundheitsversorgung in der Region Berlin-Brandenburg zu verbessern und den Medizin- und Wissenschaftsstandort zu stärken, hat die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) daher eine Reihe von Empfehlungen vorgelegt - am Dienstag berieten darüber Vertreter aus Medizin, Wissenschaft und Politik.

Digitalisierung ist mangelhaft
So empfiehlt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, massiv in die Digitalisierung zu investieren. Der Vorstandsvorsitzenden der Charité, Heyo Kroemer, stellt sich voll und ganz hinter den Vorschlag. Die Digitalisierung in Deutschland liege brach, so seine Ansicht. Das treffe auf das Gesundheitswesen besonders zu. Es habe in den vergangenen Jahren am politischen Willen und an den finanziellen Ressourcen gemangelt. "Ein Haus wie unseres verwendet etwa 1,5 bis 2 Prozent der Jahresumsätze für Digitalisierungsmaßnahmen. Wenn sie in vergleichbare amerikanische Häuser gucken, dann sind es zwischen 7 und 8 Prozent. Da liegen also Welten dazwischen. In der Konsequenz ist das deutsche Gesundheitssystem absolut mangelhaft digitalisiert", so Kroemer. Insbesondere wenn in Folge des demografischen Wandels mehr Fachkräfte als bisher fehlen, sieht der Charité-Chef die Digitalisierung als wesentlichen Lösungsansatz.
Schulfach "Gesundheit"?
Auch die Gesundheitsförderung ist ein zentraler Punkt in den Empfehlungen. Bei Kindern wird hier ein großer Verbesserungsbedarf gesehen. Experten müssten sich besser vernetzen, um Präventionsangebote auch für Kinder aus ärmeren Haushalten auszubauen, heißt es. Dadurch sollen Zivilisationskrankheiten, wie zum Beispiel Fettleibigkeit, gar nicht erst entstehen.
Der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, unterstützt den Vorschlag eines Netzwerkes, geht aber noch einen Schritt weiter. Er sieht in Kitas und Grundschulen Orte, um die Gesundheitskompetenz zu fördern. "Ich glaube schon, dass es durchaus Lehrinhalte geben kann im Kanon des Bildungswesens, die sich auch speziell beziehen auf Fragen rund um Gesundheit", sagt der Präsident der Bundesärztekammer Reinhardt.
Weniger Bürokratie, mehr Förderung
Auch die Strukturen in der Gesundheitsregion müssen aus Sicht der BBAW überarbeitet werden. Bezogen auf die Versorgung bedeutet das, Doppelangebote sollten möglichst vermieden werden. Der Staatssekretär für Gesundheit und Pflege, Thomas Götz, fordert außerdem, dass auch Verwaltungsstrukturen hinterfragt werden. "Sie alle kennen das Gesundheitssystem und kennen die Komplexität unseres Gesundheitssystems mit den vielen verschiedenen Zuständigkeiten: Bundesebene, Landesebene und ähnliches. Und das generiert natürlich auch manchmal Bürokratie-Wege, die sehr schwierig zu beschreiten sind", merkt Götz an.
Darüber hinaus müssten auch mithilfe staatlicher Förderung wissenschaftliche Erkenntnisse verstärkt in die Gesundheitsversorgung übertragen werden. Der Berliner Staatssekretär für Gesundheit und Pflege regt dazu an, offen über sogenannten Public-Private-Partnerships, also öffentlich-private Partnerschaften, im Gesundheitswesen zu diskutieren.
Die Empfehlungen der BBAW fußen auf dem Grundsatz: Gesundheit ist mehr als Medizin. Akademiemitglied Detlev Ganten und seine drei Co-Autor:innen schlagen deshalb auch ein "Gesundheitskabinett" vor. Das Gremium solle sich aus sechs hochrangigen Persönlichkeiten zusammensetzen. "Leute von außen, die nicht nur politisch denken, die möglicherweise medizinisch oder soziologisch und andere neue Gedanken einbringen", erklärt Ganten den Vorschlag. Ihre Aufgabe würde es dann auch, aus den vorgelegten Empfehlungen konkrete Vorschläge zu machen, die Umsetzung voranzutreiben und den Senat auf dem Laufenden zu halten.
Dass die Gesundheit künftig in allen Lebensbereichen berücksichtigt werden muss, unterstreicht auch der Berliner Staatssekretär für Gesundheit und Pflege, Thomas Götz. In der Koalitionsvereinbarung tauche der Gedanke bereits auf, dass alle Gesetzesvorhaben auf gesundheitliche Auswirkungen überprüft werden sollen.
Kritik an den Empfehlungen
In der Diskussionsrunde finden die Empfehlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften viel Zuspruch. Es gibt aber auch Kritik. Wenn es um die Stärkung des Forschungsstandortes Berlin geht, fielen die Fachhochschulen unter den Tisch, bemängelt Uwe Bettig, Professor an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin für Management und Betriebswirtschaft und Vorsitzender des Instituts für Forschung und Beratung im Gesundheits- und Sozialwesen.
Es sei vor allem tragisch, dass die Fachhochschulen nicht berücksichtigt wurden, weil hier zu Therapie- und Pflegeberufen ausgebildet werde. Insgesamt, so Bettigs Eindruck, liege ein sehr großer Fokus auf der Berliner Charité. Zwar heiße es in den Empfehlungen "Gesundheit ist mehr als Medizin", inhaltlich beziehen sie sich fast ausschließlich auf die Medizin, so die Kritik von Bettig im rbb-Inforadio.
Sendung: Inforadio, 11.01.2022, 15:25 Uhr