Prozess gegen 101-Jährigen fortgesetzt - "Meist baten die Wachmänner selbst um ihre Entlassung"

In Brandenburg/Havel steht seit Monaten ein 101-Jähriger vor Gericht, der SS-Wachmann in Sachsenhausen gewesen sein soll. Der historische Gutachter ist überzeugt, dass der Richtige auf der Anklagebank sitzt - und dass er sich hätte entziehen können. Von Lisa Steger.
Der Historiker Stefan Hördler hat das KZ Sachsenhausen und das Leben des Angeklagten Josef S. erforscht und in mittlerweile 16 von insgesamt 22 Verhandlungstagen darüber berichtet.
Sein Gutachten belastet den Angeklagten schwer. Rund drei Jahre lang war Josef S. als Wachmann in Sachsenhausen, so der Historiker: zuletzt als Rottenführer, das war der höchste Dienstgrad bei den Wachmannschaften. Zahlreiche Dokumente, unter anderem Truppenstammrollen, belegen das.
Ohne SS-Wachmannschaften hätte das KZ nicht funktioniert
Die Wachmänner erfüllten Aufgaben, die für den Betrieb des Konzentrationslagers unverzichtbar waren: Sie kontrollierten mit der Waffe im Anschlag die ankommenden Gefangenen und nahmen ihnen ihre Habe ab. Wer fliehen wollte, den mussten sie erschießen. Die Wachmannschaften trieben auch, vor allem gegen Kriegsende, all jene zusammen, die in so genannte "Sterbelager" deportiert wurden, etwa nach Mauthausen oder Bergen Belsen, so Hördler. Der Vermerk habe gelautet: "Rückkehr unerwünscht." Allein im Februar 1945 seien in Sachsenhausen rund 13.000 Gefangene "selektiert" worden - man bestimmte sie zur Ermordung.
Stefan Hördler ist überzeugt, dass der Angeklagte nicht gezwungen war, drei Jahre - bis zum Februar 1945 - bei der SS in Sachsenhausen zu bleiben. "Es gab auch Entlassungen", betont der Historiker. "Meist baten die Wachmänner selbst um ihre Entlassung, sagten zum Beispiel, sie wollten auf dem elterlichen Hof arbeiten."
Anwalt: "Brauchen nicht mehr Erkenntnis des Angeklagten"
Diesen Männern sei nichts passiert, sie hätten anschließend in zivilen Berufen gearbeitet. Mitunter musterte die SS auch selbst Männer aus, weil sie, wie es im NS-Jargon hieß, "nicht dienstfreudig" genug waren. Hördler geht davon aus, dass einige dieser Männer den Dienst im KZ nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten.
Bei dem Angeklagten Josef S. sei es offenbar nicht so gewesen: Er blieb in Sachsenhausen, bis er kurz vor Kriegsende auf einen Truppenübungsplatz und danach an die Front abkommandiert wurde, so der Historiker.
"Aus meiner Sicht stellt das Gutachten die Anwesenheit des Angeklagten und seine Funktion in den einzelnen Kompanien hinreichend dar", sagt Anwalt Thomas Walther, der elf Überlebende und Nachkommen vertritt. "Wir brauchen jetzt nicht mehr die Erkenntnis des Angeklagten, dass er in Sachsenhausen war - für die Prozessführung ist es nicht notwendig."
Andrang seit Monaten ungebrochen
Es könnte einer der letzten Prozesse gegen NS-Täter sein. Das Interesse, auch internationaler Medien, ist groß. Seit Anfang Oktober läuft das Strafverfahren. Nach wie vor kommen jedes Mal fünfzig bis siebzig Zuhörer. Da ist die Stieftochter des Angeklagten, die jahrelang mit ihm unter einem Dach gelebt hat, die ihn ablehnte, aber von seiner dunklen Vergangenheit nichts wusste. Da ist das Rentnerehepaar, das mit Josef S. Tür an Tür wohnte und nicht glauben kann, wer er ist - oder zumindest gewesen sein soll.
Viele Zuhörer nehmen weite Wege auf sich. Die 66 Jahre alte José Trauffler aus Luxemburg war schon dreimal hier. Ihr Vater René Trauffler hat das Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt. "Ich bin hier, weil es nie verjährt, was passiert ist", berichtet José Trauffler. Für sie steht fest: "Der Angeklagte lügt. Er ist viel zu rüstig, um zu vergessen."
Anfang Dezember hatte Josef S. ausgesagt, er sei in Litauen geboren und aufgewachsen, 1941 jedoch nach Deutschland gekommen, wo er mit seiner Familie, Baltendeutsche, in Flüchtlingslagern lebte. In der SS sei er nie gewesen, Sachsenhausen kenne er nicht. Während des Krieges will Josef S. Landarbeiter und Handwerker gewesen sein. Auch auf Nachfrage blieb er bei seiner Darstellung. Die Dokumente besagen das Gegenteil.
Verurteilung ist wahrscheinlich
Nach neuerer Rechtsprechung ist es nicht mehr nötig, den NS-Tätern in Konzentrationslagern konkrete Taten nachzuweisen. Es reicht, dass sie dort dienten, dass sie Teil des Tötungsapparates waren.
So gesehen spricht nach 22 Verhandlungstagen viel dafür, das Josef S. verurteilt wird. Doch wozu? "Die Höhe der Strafe ist mir egal", betont die Luxemburgerin José Trauffler. "Er steht am Ende seines Lebens und er wird nicht mehr eingesperrt werden. Aber die Wahrheit soll gesagt werden."
Auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma, findet: "Es geht nicht um den Vollzug in einer Strafanstalt, das ist Sache des Gerichts." Er sei zu dem Prozess gekommen, weil im nationalsozialistisch besetzten Europa 500.000 Sinti und Roma ermordet wurden. "Und da sind die Leute, die daran direkt mitgewirkt haben, dafür müssen sie sich verantworten", so Romani Rose. "Die Täter sollen wissen, dass wir ihre Taten nicht vergessen."
Prozess für die Geschichtsbücher
Jenseits der juristischen Aufarbeitung dient das Verfahren auch der Geschichtsschreibung, erklärt der Prozessbesucher Günter Morsch. Er ist der ehemalige Leiter der Gedenkstätte Sachsenhausen. "Das ist nicht der 30-jährige Krieg. Diese Zeit wirkt fort in unser Gegenwart", so Morsch. "Das KZ war eine Terrormaschine", so der 69-Jährige, "jedes Teil hat ineinandergegriffen. Und ohne das eine Teil hätte das andere nicht funktioniert. Die Wachmannschaften zählten ebenfalls zu dieser Todesmaschine."
Dass der Angeklagte sich nicht erinnern kann oder will, bedauert Morsch. "Es wäre so wünschenswert, wenn endlich einmal ein Täter sagt: Ja, ich war dabei. Und ich habe dies und jenes getan."
Danach sieht es indes derzeit nicht aus, wie der Verteidiger mitteilt. Am 17. Februar wird der Prozess fortgesetzt. Ende März soll nach bisheriger Planung ein Urteil verkündet werden.
Sendung: Brandenburg aktuell, 28. Januar 2022, 19:30 Uhr
Die Kommentarfunktion wurde am 29.01.2022 um 11:19 Uhr geschlossen. Die Kommentare dienen zum Austausch der Nutzerinnen und Nutzer und der Redaktion über die berichteten Themen. Wir schließen die Kommentarfunktion unter anderem, wenn die Zahl der Kommentare so groß ist, dass sie nicht mehr zeitnah moderiert werden können. Weiter schließen wir die Kommentarfunktion, wenn die Kommentare sich nicht mehr auf das Thema beziehen oder eine Vielzahl der Kommentare die Regeln unserer Kommentarrichtlinien verletzt.