Ende der "Berliner Mischung" - Arme Menschen werden zunehmend an den Stadtrand gedrängt
Arm und Reich driften in Berlin immer weiter auseinander. Eine exklusive Datenerhebung von rbb24 Recherche belegt: Tausende Hartz IV-Empfänger sind aus dem Stadtkern an den Rand gezogen. Das setzt oft eine Abwärtsspirale in Gang. Von Jana Göbel, Ute Barthel und Sophia Mersmann
Fast jede Woche geht Regina Thiel durch ihren Kiez, bewaffnet mit einem Rolli, Mülltüten, Handschuhen und Greifer. Die Rentnerin sammelt Müll. Müll, der die Rollbergesiedlung im nördlichsten Zipfel von Berlin-Reinickendorf verschandelt. "Es stört mich einfach, dass hier immer mehr Dreck herumliegt", sagt sie und schnippt Papiertüten, Brotreste und Glasscherben in ihren Rolli.
Video: Abendschau | 10.02.2022 | Ute Barthel, Jana Göbel
Viele der fast 6.000 Bewohner und Bewohnerinnen fühlen sich im Stich gelassen. Eigentlich wünschen sie sich nichts Besonderes, nur dass ihre Häuser nach Jahrzehnten endlich saniert werden, die Fahrstühle funktionieren, die Fenster dicht sind, die Wege beleuchtet, dazu etwas mehr Grün und Spielflächen für die Kinder. Doch das Viertel verkommt immer mehr, gut Verdienende und gut Ausgebildete ziehen fort. Die neuen Mieter sind vor allem arme Menschen, viele von ihnen konnten die Mieten in der Innenstadt nicht mehr bezahlen.
Dieser Trend ist in der ganz Berlin zu beobachten. Laut einer Erhebung der Arbeitsagentur für rbb24 Recherche sind immer weniger Hartz IV-Empfänger in der Innenstadt gemeldet, immer mehr dagegen in den Außenbezirken.
Wenn Sie die untenstehenden Grafiken nicht sehen können, klicken Sie bitte hier.
Niedergang des Quartiers seit Jahren erfasst
Landes- und Bezirkspolitiker sehen dieser Entwicklung seit langem zu. Denn Daten wie Armut, Arbeitslosigkeit, Einkommen und Bildung werden in Quartieren wie dem Rollbergeviertel regelmäßig ausgewertet. Im Verwaltungsdeutsch heißen sie "Gebiete mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf", mehr als 30 davon gibt es in Berlin. In fünf Gebieten liegt die Kinderarmut seit Jahren deutlich über 60 Prozent, zum Teil über 70 Prozent: Schulenburgpark, Maulbeerallee, Treptower Straße Nord, Weiße Siedlung und Rollbergesiedlung (siehe Grafik).
Diese Quartiere sollen eigentlich besonders gut ausgestattet werden: Grünanlagen zur Aufwertung der Wohnlage, intensive soziale Unterstützung, gute Ausstattung der Schulen. Doch die Wirklichkeit in der Rollbergesiedlung sieht anders aus: Es gibt kaum Kita-Plätze, zu wenig Sprachkurse für Migranten, keine Mieterberatung, der Jugendclub ist personell unterbesetzt, ebenso die Schule.
Wenn Sie die untenstehenden Grafiken nicht sehen können, klicken Sie bitte hier.
Geisel will nacharbeiten
"Wir müssen was tun", erklärt Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) gegenüber dem rbb und bestätigt, dass weniger zahlungskräftige Familien an den Stadtrand gedrängt werden. "Mit unserem Quartiersmanagement wollen wir dafür sorgen, dass wir Angebote in die Kieze bringen, dass Nachbarschaft organsiert wird, dass Grundschulen und Kitas gut zusammenarbeiten, damit Kinder, die nicht gut Deutsch sprechen, die nötige Förderung erfahren. All das muss organisiert werden."
Das Quartiersmanagement in der Rollbergesiedlung hat allerdings erst im vergangenen Jahr mit der Arbeit begonnen.
Organisierte Vernachlässigung des Rollberge-Quartiers
Das Kirchenzentrum FACE ist seit drei Jahren der einzige Anlaufpunkt für tausende BewohnerInnen, die viele Fragen und Probleme haben. Die Kirche versucht da zu helfen, wo Stadt und Staat bislang weitestgehend versagt haben. Die Menschen hier brauchen zum Beispiel Beratung bei Behördenpapieren, zum Bildungsweg der Kinder, zum Mietvertrag, zur Arbeitssuche.
Die Not sei groß, berichtet Doro Schmidt, die das Familienzentrum führt. "Wenn die Kinder erzählen, mit wie vielen Personen sie in einer Wohnung leben, ist das auch ein Zeichen von Armut." Viele könnten sich zu Hause gar nicht zurückziehen. Im FACE bieten sie Hausaufgabenhilfe an oder die Mitarbeiterinnen spielen und basteln mit den Kindern. Aber sie haben nur zwei Teilzeitstellen. "Wir können noch nicht an allen Tagen etwas anbieten, wir brauchen mehr Personal, um noch mehr Angebote machen zu können."
Besonders gefragt ist das Sprachencafé im Familienzentrum. Der Migrationsanteil in der Rollbergesiedlung liegt bei 48 Prozent, deutlich über dem Berliner Durchschnitt. Das größte Problem so Schmidt: Es gibt keine Kita-Plätze für die Frauen, deshalb können sie nicht arbeiten und nicht richtig Deutsch lernen. Und auch die Kinder lernen zu Hause kein Deutsch. Wenn sie dann in die Schule kommen, sind sie vom ersten Tag an benachteiligt.
Von Chancengleichheit kann keine Rede sein
Etwa 70 Prozent der Kinder haben beim Schulstart Lern- oder Sprachdefizite, erklärt Harald Liegel, Leiter der Grundschule in den Rollbergen. Von Chancengleichheit könne da keine Rede sein. Die erste Klasse beginne von Anfang an auf einem niedrigeren Niveau. "Wir geben unser Bestes, aber wir können das nicht vollständig ausgleichen." Er wünscht sich mehr Sprachförderung, überhaupt mehr Personal, damit in kleineren Lerngruppen unterrichtet werden kann.
Nur etwa 15 Prozent der Schüler hier schaffen eine Gymnasialempfehlung, 45 Prozent wäre normal in Berlin. Lehrerinnen und Lehrer sind schwer zu finden, viele würden lieber an Schulen in besseren Vierteln unterrichten, sagt Liegel. Er könne das nicht wirklich verstehen, die Arbeit an seiner Schule in den Rollbergen sei eine tolle und sehr erfüllende Aufgabe.
Niedergang des Viertels politisch verursacht
Warum Viertel wie die Rollbergesiedlung sich so verändern, kann unterschiedliche Ursache haben. Hier begann der soziale Abwärtstrend mit der Privatisierung der etwa 2.500 einst städtischen GSW-Wohnungen im Jahr 2004. Von da an ging das komplette Hochhausviertel von Hand zu Hand, wurde mehrfach weiterverkauft, bis es 2019 von der landeseigenen Gewobag erworben wurde.
Es gab fünf Eigentümer in nicht mal 20 Jahren, saniert wurde kaum. Die Gewobag muss nun nicht nur den hohen Kaufpreis verkraften, sondern soll auch in Ordnung bringen, was die Privaten versäumt haben. Auf eine Anfrage von rbb24 Recherche erklärte die Gewobag: "Wir haben für die im Rahmen der Rekommunalisierung entstandenen Hoffnungen der MieterInnen Verständnis. Die damit einhergehende Erwartung, dass fehlende Investitionen des Vorbesitzers unverzüglich nachgeholt werden, ist allerdings nicht realistisch."
Die Gewobag habe bisher 5,7 Millionen Euro investiert, zum Beispiel für die Instandsetzung der defekten Heizungsanlage und für die Asbestbeseitigung in den Gebäuden. Noch einmal sechs Millionen sollen in den kommenden Jahren in die Modernisierung der Aufzüge und die Sanierung von Laubengängen und Balkonen fließen.
WBS-Vergabe verstärkt die Spaltung
Gleichzeitig gilt: Wie alle sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen, muss die Gewobag 63 Prozent der Wohnungen an Menschen mit Wohnberechtigungsschein (WBS) vergeben, also Menschen ohne eigenes oder mit einem sehr geringen Einkommen. Dadurch wird die Konzentration von Armut in Vierteln wie der Rollbergesiedlung noch befördert.
"Auf der einen Seite ist es richtig, Menschen mit geringen Einkommen mit Wohnraum zu versorgen", sagt Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel dazu, aber nach einer gewissen Zeit kippt das, wenn man in bestimmten Vierteln nur noch Menschen mit Wohnberechtigungsschein hat. "Wenn wir die soziale Mischung erhalten wollen", so Geisel, "dürfen wir das bei der Rollbergesiedlung nicht so fortsetzen."

Die Berliner Mischung ist Geschichte
Früher sei sozialer Wohnungsbau in der Innenstadt die Normalität gewesen, erklärt Soziologie-Professor Marcel Helbig vom Wissenschaftszentrum für Soziale Forschung Berlin. Viele dieser Wohnungen seien aber inzwischen aus der Mietpreisbindung. "Jetzt haben wir eine soziale Spaltung in Berlin und anderen Städten", kritisiert der Soziologe. In Berlin könne man längst nicht mehr von einer Durchmischung reden.
Die Mittelschicht meidet Quartiere, wo sehr viele Arme wohnen, oder zieht weg. Helbig spricht von einer Abwärtsspirale, die - einmal in Gang gekommen - nur schwer zu stoppen sei. Doch das Rumdoktern an den Symptomen, wie Schulpolitik, Wohnumfeld-Verschönerung und Sozialbetreuung setzt aus seiner Sicht falsche Prioritäten. Das Hauptproblem sei die Verteilungsungerechtigkeit in der Gesellschaft. "Wir haben immer ungleichere Einkommen und Vermögen: Manche kaufen sich millionenteure Einkommenswohnungen, andere wissen nicht, wie sie über den Tag kommen sollen."
Sendung: Abendschau, 03.02.22, 19:30 Uhr