Ukraine-Konflikt - Zwei Schicksale und ein drohender Krieg - von Kiew nach Berlin und zurück

Droht ein Krieg auszubrechen, stellt man sich Fragen, an die man vorher nie denken musste. Bleibe ich oder gehe ich? Sehe ich meine Liebsten je wieder? Zwei Kiewer mussten sich diese Frage stellen und erklären, wie sie sich entschieden haben. Von Efthymis Angeloudis
Garry Kraievets dreht immer das Wasser ab, wenn er verreist, auch wenn er nur eine Woche weg ist. Das war auch am Sonntag nicht anders, als er seine Wohnung verließ und mit einem Koffer und einem Rucksack zum Kiewer Hauptbahnhof fuhr, um den Nachtzug nach Warschau und anschließend Berlin zu nehmen. Diesmal wusste er aber nicht, wann er zurückkommt.
"Ich habe nicht viel eingepackt", sagt der 29-jährige Psychoanalytiker und Künstler. "So viel wie ich normalerweise mitnehme, wenn ich für einen Monat verreise." Nur vor Lacans sechsbändiger Buchreihe über das Begehren musste er kurz stehen bleiben, bevor er das Haus verließ. "Wissen sie, wie schwierig es ist an auf Russisch übersetzte französische Bücher zu kommen." Ein Freund hatte ihm die Bände aus Moskau mitgebracht - bestellen war nicht möglich. Doch Garry legte die Bänder wieder ins Regal und schloss die Tür hinter sich ab - außer Nachrichten über den drohenden Krieg konnte er jetzt sowieso nichts anderes lesen.
USA: Invasion steht unmittelbar bevor
Vor einigen Tagen erst hatte die US-Regierung bekannt gegeben, dass eine russische Invasion in der Ukraine "unmittelbar" bevorstehe [sueddeutsche.de]. "Russland könnte in sehr kurzer Zeit den Befehl zu einer großen Militäraktion gegen die Ukraine geben", sagte Joe Bidens Sicherheitsberater, Jake Sullivan bei einer Pressekonferenz am Freitag. Nachrichten, die natürlich auch Garry beeinflussten.
Es ist Sonntagabend als er in den Zug in Kiew einsteigt. Am nächsten Tag ist er in Berlin. "Ich lese eigentlich seit Dezember nichts anderes als Nachrichten", sagt Garry in einem Cafe in Kreuzberg. Er liebe Berlin, die Clubs, die Museen. Er war schon zehn Mal hier. "Vielleicht gehe ich später ins Museum". "Angst?", fragt er und kratzt ein bisschen verlegen an seinen kurzen schwarzen Haaren. "Angst hatte ich eigentlich keine, eher Wut", und lacht ein bisschen als wollte er vom Thema ablenken.
Plötzlich streicht KLM Garrys Flug
"Warum muss ich meine Pläne ändern. Warum kann mein Leben nicht ganz normal sein?", habe er sich wütend gefragt, als er sich ein letztes Mal umdrehte, um auf das Haus zu schauen, das er und seine Frau Sascha seit einem Jahr ihr Zuhause nennen.
Dabei hatte er in der Demokratischen Schule, die er in Kiew mitbegründet hat, viel zu tun. Im September wollte er eine vierte Schule gründen. Nach Kiew, Odessa und Dnipro nun auch in Lviv. Einen Rektor hätten sie gefunden und Lehrerinnen und Lehrer, blieb eigentlich nur noch das Schulgebäude. Aber wie soll man für die Zukunft planen, wenn ein Krieg einem jeden Moment einen Strich durch die Rechnung machen kann. "Natürlich hatte ich Angst", sagt er nach einer kurzen Pause.
Seine Frau Sascha arbeitet zurzeit an einem Kunstprojekt in Amsterdam. Garry wollte nächste Woche zu ihr fliegen. Doch am Samstag setzte die niederländische Fluggesellschaft KLM ihre Flüge in die Ukraine bis auf Weiteres aus, nachdem die Regierung in Den Haag eine Reisewarnung veröffentlicht hatte. "Wenn tatsächlich ein Krieg ausbrechen sollte, sind die Grenzen dicht", erklärt der 29-jährige. "Und wer weiß, wann man dann wieder weg kann." Dabei war seine Hochzeit erst im September. Das sei nicht gut, seine Frau so lange nicht sehen zu können.
Scholz in Moskau, Marc in Kiew
In Kiew sitzt Marc Raymond Wilkins in seinem Büro, als ob es ein ganz gewöhnlicher Wochentag wäre - dabei ist dieser Dienstag alles andere als normal. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat sich eben an diesem Tag bei einem Staatsbesuch in Moskau [tagesschau.de] weiter zuversichtlich gezeigt, auf diplomatischem Weg eine Lösung für den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu finden. Die erste Erleichterung über den angekündigten teilweisen Truppenabzug von der ukrainischen Grenze wurde im Laufe des Tages aufgrund mangelnder Beweise vorerst wieder gedämpft.
Auch Marc hat seine Frau Olga im September letzten Jahres geheiratet - in Kiew, direkt an der Dnepr. "Wir haben uns im Sommer 2018 in Kiew kennengelernt." Olga war ein Jahr lang beruflich in Berlin, kam dann aber wieder zurück. Sie hatten so viele Gemeinsamkeiten, dass sie bereits von Freunden voneinander gehört hatten. Schließlich wurden sie einander vorgestellt. "Unsere Liebe zur Kunst und Architektur hat uns zusammengebracht."

Auto vollgetankt und bereit zur Flucht
Doch statt passendes Besteck oder Porzellan für die gemeinsame Wohnung, kauften sich die beiden Benzinkanister. "Am Anfang dachten wir, wir halten unser Auto vollgetankt und bereit mit Extra-Benzin in Kanistern und haben uns die verschiedenen Routen angeschaut, wie man aus der Stadt am Besten Richtung Westen kommt", erklärt der Schweizerisch-Britische Regisseur. Im Fall eines Angriffs würden sie dann einfach losfahren nach Berlin zu Marcs Schwester. Schnell wurde ihnen aber klar, dass in dem Moment, wenn es losgeht, die Straße und das Auto eigentlich die gefährlichsten Orte seien.
Als sie darüber nachdachten, wurde immer klarer, dass sie in Kiew bleiben wollen. "Es ist mein Zuhause." Marc machte die entgegengesetzte Reise - von Berlin zog der Regisseur 2016 nach Kiew. "Nicht weil ich hier einen Job bekommen hätte, sondern einfach, weil ich in Kiew leben wollte, weil es mich berührt und begeistert hat, wie die Zivilgesellschaft hier nach der Maidan-Revolution 2014 erwacht ist."
Wie bereitet man sich auf einen Krieg vor?
Aber was ist, wenn ein Krieg ausbrechen sollte? Was braucht man in so einem Fall? "Man muss sich darauf vorbereiten, dass es einen Stromausfall geben kann, dass es zwei Wochen lang keinen Strom gibt", erklärt Marc.
Das Paar hat einen Stromgenerator auf dem Dachboden und ein Verlängerungskabel, um den Strom in die Wohnung leiten zu können. Wasserfilter damit man irgendwie Wasser aus dem Fluss oder Regenwasser filtern kann, Proviant für zwei Wochen, Walkie-Talkies, falls Telefone nicht mehr funktionieren. "Ein batteriebetriebenes Radio, damit wir Nachrichten empfangen können, auch wenn das Internet nicht mehr funktioniert, Taschenlampen und einen Wanderrucksack habe ich mir gekauft um dann auch zu Fuß durch die Stadt zu kommen". Ein Überlebenskit für den Fall aller Fälle auf.
Doch bis dahin herrsche eine seltsame Ruhe auf den Straßen Kiews, als ob alle vor Angst gelähmt wären. "Meine Angst ist, dass die Ukraine ganz langsam von einer ständigen Drohhaltung Russlands erwürgt werden könnte", sagt Marc. Da müsse es gar nicht zu einem Krieg kommen und auch gar keine Panzer über die Grenze rollen. "Die junge Generation, die das Land verändern möchte, wird es nicht aushalten, über Jahre einen Panzerlauf auf ihr Gesicht gerichtet zu haben."
Was Putin möchte
Der militärische Konflikt im Osten der Ukraine hält seit fast sieben Jahren an. Obwohl er seit seinem Beginn im Spätsommer 2014 nie aufgehört hatte, war der Krieg im Osten des Landes und der russisch-ukrainische Konflikt zunehmend aus der westlichen Öffentlichkeit verschwunden. Russland kündigte nun an, einen Teil seiner Truppen von der ukrainischen Grenzen abzuziehen. Vertreter der NATO betonen aber, dass die Gefahr einer russischen Invasion noch nicht gebannt sei [deutschlandfunk.de]. Die diplomatischen Verhandlungen zur Verhinderung eines Krieges laufen auf Hochtouren.
"Es herrscht keine Panik, es ist nur irgendwie ganz, ganz ruhig", sagt der Wahlkiewer Marc. "Ich glaube nicht, dass es eine Ruhe vor dem Sturm ist." Man dürfe nicht vergessen, dass seit 2014 bereits 13.000 Menschen gestorben seien. Krieg herrsche im Land die ganze Zeit. "Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist ruhig zu bleiben. Panisch zu werden, Angst zu bekommen, wegrennen zu wollen, das ist eigentlich genau das, was Putin möchte."
Krieg in den Köpfen
"Was Putin möchte", fragt Garry zurück in Berlin. "Sie meinen, was Russland möchte?" Für ihn sind Putin und Russland ein und dasselbe. "Selbst wenn Putin nicht mehr Präsident ist, selbst wenn er tot ist, könnte immer jemand schlimmeres kommen." Die Haltung Russlands gegenüber der Ukraine würde sich auf jeden Fall nicht ändern. Die ständige Kriegsbedrohung würde weiterhin über ihren Köpfen schweben.
"Ich weiß nicht was ich hätte tun sollen, falls Bomben auf die Stadt zu fallen drohen", sagt Garry zurück in Berlin. "Alle meinten, man solle zu den Metro-Stationen. Die seien sicher wie ein Luftschutzbunker." Arsenalna, die nächste Station an Garrys Haus ist mehr als fünf Minuten entfernt. "Ich habe in den letzten Monaten an nichts anderes denken können."
Was Garry begehrt
Und kämpfen? Garry schaut etwas ungläubig. "Ich kann nicht kämpfen. Ich kann nicht töten und ja, ich habe Angst." Jedes Leben sei ihm heilig – es zu nehmen eine Anmaßung. "Ich kann verstehen, dass Menschen in den Krieg zu ziehen, um ihr Land, ihre Familie oder ihr Zuhause zu verteidigen. Aber ich kann das nicht", sagt er verlegen. "Ich bin Psychotherapeut, kein Soldat."
Zurückkehren nach Kiew will er unbedingt. "Berlin, Amsterdam, Europa ist schön aber was soll ich hier machen? Mein Leben ist in Kiew," sagt er als ob sein Heimatland nicht in Europa liege. Zusammen mit Sascha werde er zurückkehren in ihr Haus, zu ihren Büchern. Dann könnte er auch Lacans "Begehren" zu Ende lesen. "Vielleicht habe ich die Bücher zurückgelassen, weil ich weiß, was ich begehre", sagt Garry lachend.
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