Interview | Anmeldung für die Oberschule - "Man müsste weg von dieser Förderprognose"

Mi 23.02.22 | 14:42 Uhr
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Schülerinnen melden sich während des Unterrichts an einer Schule. (Quelle: dpa/Hauke-Christian Dittrich)
Bild: dpa/Hauke-Christian Dittrich

Noch bis einschließlich Mittwoch können sich Berliner Grundschüler und deren Eltern für eine Oberschule anmelden. Für viele Familien schwierig, insbesondere, wenn die Kinder nicht mit Traumnoten glänzen. Eine Beraterin schätzt die Lage ein.

rbb|24: Hallo Frau Christians-Roshanai, noch bis zum 23. Februar können Berliner Schüler ihre drei Wünsche für die Oberschule, die sie nach dem Sommer besuchen wollen, abgeben. Sie beraten Schüler samt Eltern zur richtigen Oberschule. Wie gehen Sie da vor?

Maya Christians-Roshanai: Die Beratung beginnt sehr frühzeitig. Wir fangen im September an stadtweit Schüler und Schülerinnen der fünften und sechsten Klassen und deren Eltern individuell zu beraten. Dabei erfahre ich, auf welche Grundschule das Kind geht und welche Stärken und Interessen das Kind hat. Und auch, welche Informationen das Kind über infrage kommenden Schulen und Schulformen dem Kind schon vorliegen. Dann versuchen wir herauszufinden, welche Schulform am besten zu dem Kind passt.

Zur Person

Maya Christians-Roshanai lebt in Neukölln. Sie ist Gründerin der Neuköllner Schülerhilfe Maja und hat gemeinsam mit ihrer Freundin Maike, Team TaMa, den Verein Fit für die Oberschule Berlin e.V. mitgegründet, der Eltern und Kindern helfen soll, die richtige Oberschule zu finden. (Quelle: privat)
privat

Fit für die Oberschule e.V. - Maya Christians-Roshanai

Maya Christians-Roshanai lebt in Neukölln. Sie ist Gründerin der Neuköllner Schülerhilfe Maja und hat gemeinsam mit ihrer Freundin Maike, Team TaMa, den Verein Fit für die Oberschule Berlin e.V. mitgegründet, der Eltern und Kindern helfen soll, die richtige Oberschule zu finden.

Welche Informationen sind dabei für Sie am wichtigsten?

Man muss neben den genannten Aspekten immer auf die Förderprognose schauen, die das Kind bekommen wird. Diese Förderprognose ist zusammen mit dem Arbeits- und Sozialverhalten und dem Informationsblatt über die Kompetenzen des Kindes, die Eintrittskarte in die Oberschule. Je besser die Förderprognose ist, desto leichter wird es für das Kind, sich Erst-, Zweit- und Drittwunschschule wirklich aussuchen zu können.

Die Förderprognose, eine Art Durchschnittsnote, kann man sich als eine Art Numerus Clausus (NC) vorstellen, mit dem die Schulen den Zugang regeln?

Ja, da gibt es ja seit vielen Jahren ganz klare Regeln: Nur bis zu einem Durchschnitt von 2,2 bekommen die Schüler und Schülerinnen eine Empfehlung für ein Gymnasium. 2,3 bis 2,7 kann eine Empfehlung für das Gymnasium und die Sekundarschule sein. Aber egal, welche Empfehlung man hat: Je besser der Notendurchschnitt eines Kindes ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es auf seiner Erstwunsch-Schule angenommen wird. Aber es gibt auch Kinder, die keine Förderprognose für ein Gymnasium bekommen, deren Noten also schlechter als gut sind. Und diese Kinder und deren Eltern kommen vor allem zu mir in die Beratung. Das sind Kinder, die sich die Schule nicht so einfach aussuchen können.

Es gibt ja auch Stadtteile, wo fast alle Gymnasien übernachgefragt sind. Da haben nicht einmal Kinder mit einem Durchschnitt von 1,9 eine Chance, einen Platz zu bekommen.

Ich finde das ganze Aufnahmeverfahren völlig befremdend. Aber es war natürlich immer schon so, dass Schülerinnen und Schüler, die eine sehr gute Förderprognose haben, es leichter hatten, an ihrer Wunschschule aufgenommen zu werden.

Es gibt Schulen, bei denen die Durchschnittsnote von Jahr zu Jahr stark schwankt. Die Kinder bis zur Durchschnittsnote 2,4 sicher aufgenommen haben - und im nächsten Jahr lag der Wert bei 1,8.

Das dürfte es einfach nicht so geben! Das ist etwas, was ich grundsätzlich kritisiere. Natürlich müssen auch Schüler mit schlechterem Durchschnitt eine Chance auf einen Schulplatz an einer Schule haben und nicht nur diejenigen mit den herausragenden Leistungen.

Wenn man den Durchschnitt vom Vorjahr als Elternteil erfragt, kann man sich halbwegs ausrechnen, ob das Kind an dieser Schule einen Platz bekommen könnte. Zumindest gilt das für Schüler mit guten Leistungen. Doch es muss auch auf die Schüler runtergebrochen werden, die weder gute Leistungen noch ein gutes Arbeits- und Sozialverhalten haben. Die haben auch ein Recht auf einen Schulplatz an ihrer Wunschschule. Sie können deren Kriterien aber oft gar nicht erfüllen.

Nicht die Schule sollte fragen, warum das Kind sich dort anmelden will. Sondern die Schulen müssten beantworten, warum sich das spezielle Kind an dieser Schule anmelden sollte.

Maya Christians-Roshanai

Was macht man mit diesen Schülern?

Darüber müssten sich auch die Eltern, deren Kinder eine Empfehlung für ein Gymnasium haben, und die sie trotzdem auf eine übernachgefragte integrierte Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe oder eine übernachgefragte Gemeinschaftsschule schicken, eigentlich auch mal Gedanken machen. Denn ihre Kinder haben dort dann eine hundertprozentige Chance, aufgenommen zu werden. Aber dadurch fällt ein Platz für einen Schüler, der dringend das Konzept dieser Schulen bräuchte, weg.

Die Chancen für die Schüler, die keine guten Leistungen haben, sind einfach nicht gleich. Das erlebe ich seit mehreren Jahren. Die Kinder sollen von den Eltern aus unbedingt eine gymnasiale Empfehlung bekommen, werden dann aber trotzdem nicht unbedingt auf das Gymnasium geschickt. So ist das eigentlich nicht gedacht. Wir müssen also mit dem Kind, das keine guten Noten hat, wirklich schauen, welche Stärken es hat und welche Schule passt. Es soll sich ja wohlfühlen.

Wie gestaltet sich denn die Arbeit mit den Eltern?

Die Hürden sind für einige Eltern sehr hoch. Für einige war es schwer, gerade jetzt zu Pandemiezeiten, mit den Schulen in Kontakt zu kommen.

Es gibt aber auch viele Eltern, die mit all den Informationen, die zur Verfügung stehen, nicht zurechtkommen. Sie kennen das Schulsystem nicht und können im Zweifelsfall nicht Lesen und Schreiben. Sie brauchen also persönliche Gespräche. Und barrierefreie Angebote – in einfacher und in verschiedenen Sprachen. Viele Eltern beschämt das ganze Procedere. Weil sie auch viel von sich Preis geben müssen. Viele sind auch technisch abgehängt und können keine Anmeldungs-Unterlagen für ihre Kinder runterladen.

Was müsste geändert werden?

Man müsste weg von dieser Förderprognose. Sie ist zurzeit alles, was zählt. Das ist – und erst recht zu Pandemiezeiten – nur eine Momentaufnahme. Ich konnte in Neukölln nachweisen, dass die Kinder, die hier mit oder ohne Empfehlung dafür ihr Probejahr am Gymnasium in gleichen Anteilen bestanden haben. Alle Schüler und Schülerinnen haben Entwicklungspotenzial. Alle Schüler müssten die Möglichkeit bekommen, sich bei ihrer Wunschschule persönlich und auf Augenhöhe vorzustellen. Und nicht die Schule sollte fragen, warum das Kind sich dort anmelden will. Sondern die Schulen müssten beantworten, warum sich das spezielle Kind an dieser Schule anmelden sollte. Damit bei diesen für die Kinder stressigen Gesprächen eine gewisse Augenhöhe entsteht. Denn schon durch die Tatsache, dass sich sowohl Kinder als auch Eltern da von ihrer besten Seite präsentieren wollen, sind sie nicht auf Augenhöhe. Sie stellen also vielleicht auch kritische Fragen nicht, die sie unter anderen Umständen stellen würden. Die Kinder sollten in diesen Gesprächen herausfinden können, ob die Schule überhaupt zu ihnen passt.

So wie es derzeit läuft, sagt die Bewerbung über das Kind eigentlich gar nichts aus. Es wird gar nicht als Mensch gesehen. Insbesondere auf übernachgefragte Schulen müssten die Schüler, auch welche mit schlechteren Noten, die das Konzept der Schulen brauchen, auch gehen können. Aber das ist gerade selten der Fall.

Vielen Dank für das Gespräch.


Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24

12 Kommentare

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  1. 11.

    Schulnoten sagen oft nichts über die Intelligenz aus. ...und auch nichts über den Lernwillen oder Lernlust/Lernqual.

    Meine Empfehlung war die Hauptschule. Meine Mutter bestand auf Realschule . Notendurchschnitt 2,8....Dort war der Lehrer der Meinung, dass ich unter "Unterforderung" leide. Nach ein paar Tests kam raus: Mit einer 3 bin ich zufrieden und meine Umwelt auch. Egal in welche Schule oder Beruf man mich steckt, ich werde immer ein 3er Kandidat sein. Kurz: Abitur mit Note 3 und alle Ausbildungen/Studien mit 3 abgeschlossen.

    Die frühere Einteilung praktischer, technischer und wissenschaftlicher Zweig war eigentlich zielführender. Es gibt eben eher Kopfarbeiter und eher Handwerker... und Handwerker sind oft intelligenter als so mancher Abiturient!

  2. 10.

    DIe Förderprognose kann nur dann stimmen, wenn die Grundschulen alle den gleichen Standard haben. Es läuft ja alles darauf ab, ob man guten Unterricht bekommen hat. Was definitiv nicht der Fall ist. Wahrscheinlich muss es eine Zentralprüfung geben. Das Abitur besteht ja auch zum Teil aus einer Zentralprüfung.

  3. 9.

    Die Förderprognose ist, ganz im Gegenteil, sogar extrem notwendig. Es nutzt niemandem etwas, Schüler zu überfordern, nur des Prestiges wegen, auf eine höhere Schule zu gehen. Der Fehler und damit das Problem liegt aber darin, dass die Aufsplittung in die Schulformen und damit die Festlegung des weiteren Bildungsweges in Deutschland viel zu früh erfolgt. So fallen Kinder durchs Raster, die sich erst später positiv entwickeln und andererseits fühlen sich manche als positiv prognostizierte Kinder auf der höheren Schulform plötzlich überfordert und sinken im Notendurchschnitt drastisch ab. Leider ist manchen der formelle Abschluss offensichtlich wichtiger, als der Notendurchschnitt. Kinder sollten meines Erachtens länger zusammen lernen als heute, bei möglichst hohen Anforderungen und eine Differenzierung keinesfalls vor der 7., besser erst vor der 9. Klassenstufe erfolgen. Das bedingt natürlich auch, dass die Leistungsanforderungen bis dahin für alle möglichst hoch sein müssen.

  4. 8.

    Sehr gut der Vorschlag. Das Pferd von hinten aufzäumem. Zuerst die Schüler mit den schlechteren Noten und dem problematischen Sozialverhalten an den angesagten Schulen dieser Stadt aufnehmen und allen anderen Bewerbern (m/w/d) dann erklären müssen, warum gerade sie an dieser Schule ausserdem willkommen sind, warum gerade diese guten Schüler sich für diese (angesagte) Schule entscheiden sollten. Super Idee. Ganz ohne Ironie. Nur so kann die vielbeschworene Chancengleichheit vom Grundsatz hergestellt werden.

  5. 7.

    Genau, es ist eine Katastrophe.
    Allen Kindern, die keine 1,0 oder 1,1 haben, kann man nicht mal Mut machen, dass sie ganz toll sind und das mit der Wunschschule klappt. Es könnte richtig in die Hose gehen und das Vertrauen verspielen. Und Kindern mit 2,0 - was wunderbare Noten sind, vor allem bei Jungen - sagt man gleich, ihr habt keine Chance?
    Das System braucht dringend Reformen. Und dass die 12 jährigen Kinder (teilweise schon 10 Jährige) durch die Gegend Gondeln müssen, ist auch einfach nur traurig. Manch Schultag ist damit länger als ein Arbeitstag.

  6. 6.

    Alle Jahre wieder dieses Thema und es ist wieder nicht in seiner Brisanz und Auswirkung im Beitrag ersichtlich für Außenstehende. Aus meiner Sicht ein Alptraum welcher 1 Jahr läuft und Kinder und Familien in einen Ausnahmezustand versetzt, wenn ihnen die Schulwahl nicht egal ist.
    1.Es stimmt in der Praxis nicht, dass man 3 Wahlschulen hat, da die Erstwunschschule mit den Erstwünschen meist schon voll ist. 2. Und es ist nicht die Förderprognose das Wichtigste, sondern knallhart der Durschnitt. Exceltabelle und raus bist du, oder du wirst per Lostopf gezogen. 3. Die ISS mit Gymnasium Thematik ist wirklich nicht fair, dies sehen selbst die Lehrer so. Dort sollen keine Schüler bis 1,5 lernen, aber genau die müssen sie nehmen, weil die Eltern gerne das Abitur mit 13 Jahren haben möchten und es die beste Schulform für Jungs ist.
    Mittlerweile sehen viele Eltern es so, dass wie bei der Grundschule das Einzugsgebiet zählen sollte.

  7. 5.

    Es geht vermutlich um das soziale Umfeld statt Bildung, manchmal von ausgerechnet solchen Eltern, die sonst Toleranz auf der Stirn tragen. Dabei wird vergessen, wie schädlich eine Überforderung für Kinder ist. Hinderlich, möglichst schnell fertig zu werden (mit der Schule) sowieso. Jeder Handwerksbetrieb weiß was benötigt wird, es ist nicht das Abitur (damit kann man kein Geld verdienen, weil man noch nichts kann, aber reif(er) ist und erst einmal nur "befähigt" ist).
    Die Überschrift hilft nicht wirklich, es braucht ja eine Vergleichsmöglichkeit...und das ist anstrengend und nicht immer gerecht.

  8. 4.

    Hi,
    leider setzen sich Eltern selten bis garnicht ehrlich/neutral mit den Fähigkeiten ihres Kindes und den Anforderungen der weiteren Schule auseinander.
    Sie projizieren ihre eigenen Erfahrung und (nicht) erreichten Lebensträume in ihr Kind.
    Ergebnis: Nachhilfe, wenn man es sich leisten kann, und Versagen.
    Dieses Verhalten von Eltern setzt sich häufig auch bei der Berufswahl fort.

  9. 3.

    Vielen Dank für diesen Beitrag. Zeigt er doch den Grundsatz auf, sage mir wer Deine Eltern sind und ich sage Dir welchen Schulabschluss und welche Note Du erhältst. - Du nicht Sie-

    Nunmehr leben wir in Mitteleuropa und der Rohstoff in diesem schönen Lande ist Bildung, Technologie und Innovation! Auf allen Ebenen!

    Vielleicht auch für....

  10. 2.

    Besonders befremdlich finde ich, dass es diesen NC auch bei integrierten Sekundarschulen gibt. Auch dort sind NC von 1,9 oder 2,2 oder 2,7 zu finden.
    Damit haben sie meiner Meinung nach ihren Bildungsauftrag als ISS verfehlt.
    Dort sollte eigentlich ein gesunder Mix aus sämtlichen Noten vorzufinden sein.
    Das ist wirklich sehr traurig für die Schüler.

  11. 1.

    Also sind Schulen die Kinder mit einem
    Notendurchnitt schlechter als 1,9
    aufnehmen keine Schulen ?
    Woher bekommen die Handwerksbetriebe
    ihre Praktikanten, Voluntere und
    Werkstudenten ?

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