Interview | Anmeldung für die Oberschule - "Man müsste weg von dieser Förderprognose"

Noch bis einschließlich Mittwoch können sich Berliner Grundschüler und deren Eltern für eine Oberschule anmelden. Für viele Familien schwierig, insbesondere, wenn die Kinder nicht mit Traumnoten glänzen. Eine Beraterin schätzt die Lage ein.
rbb|24: Hallo Frau Christians-Roshanai, noch bis zum 23. Februar können Berliner Schüler ihre drei Wünsche für die Oberschule, die sie nach dem Sommer besuchen wollen, abgeben. Sie beraten Schüler samt Eltern zur richtigen Oberschule. Wie gehen Sie da vor?
Maya Christians-Roshanai: Die Beratung beginnt sehr frühzeitig. Wir fangen im September an stadtweit Schüler und Schülerinnen der fünften und sechsten Klassen und deren Eltern individuell zu beraten. Dabei erfahre ich, auf welche Grundschule das Kind geht und welche Stärken und Interessen das Kind hat. Und auch, welche Informationen das Kind über infrage kommenden Schulen und Schulformen dem Kind schon vorliegen. Dann versuchen wir herauszufinden, welche Schulform am besten zu dem Kind passt.
Welche Informationen sind dabei für Sie am wichtigsten?
Man muss neben den genannten Aspekten immer auf die Förderprognose schauen, die das Kind bekommen wird. Diese Förderprognose ist zusammen mit dem Arbeits- und Sozialverhalten und dem Informationsblatt über die Kompetenzen des Kindes, die Eintrittskarte in die Oberschule. Je besser die Förderprognose ist, desto leichter wird es für das Kind, sich Erst-, Zweit- und Drittwunschschule wirklich aussuchen zu können.
Die Förderprognose, eine Art Durchschnittsnote, kann man sich als eine Art Numerus Clausus (NC) vorstellen, mit dem die Schulen den Zugang regeln?
Ja, da gibt es ja seit vielen Jahren ganz klare Regeln: Nur bis zu einem Durchschnitt von 2,2 bekommen die Schüler und Schülerinnen eine Empfehlung für ein Gymnasium. 2,3 bis 2,7 kann eine Empfehlung für das Gymnasium und die Sekundarschule sein. Aber egal, welche Empfehlung man hat: Je besser der Notendurchschnitt eines Kindes ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es auf seiner Erstwunsch-Schule angenommen wird. Aber es gibt auch Kinder, die keine Förderprognose für ein Gymnasium bekommen, deren Noten also schlechter als gut sind. Und diese Kinder und deren Eltern kommen vor allem zu mir in die Beratung. Das sind Kinder, die sich die Schule nicht so einfach aussuchen können.
Es gibt ja auch Stadtteile, wo fast alle Gymnasien übernachgefragt sind. Da haben nicht einmal Kinder mit einem Durchschnitt von 1,9 eine Chance, einen Platz zu bekommen.
Ich finde das ganze Aufnahmeverfahren völlig befremdend. Aber es war natürlich immer schon so, dass Schülerinnen und Schüler, die eine sehr gute Förderprognose haben, es leichter hatten, an ihrer Wunschschule aufgenommen zu werden.
Es gibt Schulen, bei denen die Durchschnittsnote von Jahr zu Jahr stark schwankt. Die Kinder bis zur Durchschnittsnote 2,4 sicher aufgenommen haben - und im nächsten Jahr lag der Wert bei 1,8.
Das dürfte es einfach nicht so geben! Das ist etwas, was ich grundsätzlich kritisiere. Natürlich müssen auch Schüler mit schlechterem Durchschnitt eine Chance auf einen Schulplatz an einer Schule haben und nicht nur diejenigen mit den herausragenden Leistungen.
Wenn man den Durchschnitt vom Vorjahr als Elternteil erfragt, kann man sich halbwegs ausrechnen, ob das Kind an dieser Schule einen Platz bekommen könnte. Zumindest gilt das für Schüler mit guten Leistungen. Doch es muss auch auf die Schüler runtergebrochen werden, die weder gute Leistungen noch ein gutes Arbeits- und Sozialverhalten haben. Die haben auch ein Recht auf einen Schulplatz an ihrer Wunschschule. Sie können deren Kriterien aber oft gar nicht erfüllen.
Was macht man mit diesen Schülern?
Darüber müssten sich auch die Eltern, deren Kinder eine Empfehlung für ein Gymnasium haben, und die sie trotzdem auf eine übernachgefragte integrierte Sekundarschule mit gymnasialer Oberstufe oder eine übernachgefragte Gemeinschaftsschule schicken, eigentlich auch mal Gedanken machen. Denn ihre Kinder haben dort dann eine hundertprozentige Chance, aufgenommen zu werden. Aber dadurch fällt ein Platz für einen Schüler, der dringend das Konzept dieser Schulen bräuchte, weg.
Die Chancen für die Schüler, die keine guten Leistungen haben, sind einfach nicht gleich. Das erlebe ich seit mehreren Jahren. Die Kinder sollen von den Eltern aus unbedingt eine gymnasiale Empfehlung bekommen, werden dann aber trotzdem nicht unbedingt auf das Gymnasium geschickt. So ist das eigentlich nicht gedacht. Wir müssen also mit dem Kind, das keine guten Noten hat, wirklich schauen, welche Stärken es hat und welche Schule passt. Es soll sich ja wohlfühlen.
Wie gestaltet sich denn die Arbeit mit den Eltern?
Die Hürden sind für einige Eltern sehr hoch. Für einige war es schwer, gerade jetzt zu Pandemiezeiten, mit den Schulen in Kontakt zu kommen.
Es gibt aber auch viele Eltern, die mit all den Informationen, die zur Verfügung stehen, nicht zurechtkommen. Sie kennen das Schulsystem nicht und können im Zweifelsfall nicht Lesen und Schreiben. Sie brauchen also persönliche Gespräche. Und barrierefreie Angebote – in einfacher und in verschiedenen Sprachen. Viele Eltern beschämt das ganze Procedere. Weil sie auch viel von sich Preis geben müssen. Viele sind auch technisch abgehängt und können keine Anmeldungs-Unterlagen für ihre Kinder runterladen.
Was müsste geändert werden?
Man müsste weg von dieser Förderprognose. Sie ist zurzeit alles, was zählt. Das ist – und erst recht zu Pandemiezeiten – nur eine Momentaufnahme. Ich konnte in Neukölln nachweisen, dass die Kinder, die hier mit oder ohne Empfehlung dafür ihr Probejahr am Gymnasium in gleichen Anteilen bestanden haben. Alle Schüler und Schülerinnen haben Entwicklungspotenzial. Alle Schüler müssten die Möglichkeit bekommen, sich bei ihrer Wunschschule persönlich und auf Augenhöhe vorzustellen. Und nicht die Schule sollte fragen, warum das Kind sich dort anmelden will. Sondern die Schulen müssten beantworten, warum sich das spezielle Kind an dieser Schule anmelden sollte. Damit bei diesen für die Kinder stressigen Gesprächen eine gewisse Augenhöhe entsteht. Denn schon durch die Tatsache, dass sich sowohl Kinder als auch Eltern da von ihrer besten Seite präsentieren wollen, sind sie nicht auf Augenhöhe. Sie stellen also vielleicht auch kritische Fragen nicht, die sie unter anderen Umständen stellen würden. Die Kinder sollten in diesen Gesprächen herausfinden können, ob die Schule überhaupt zu ihnen passt.
So wie es derzeit läuft, sagt die Bewerbung über das Kind eigentlich gar nichts aus. Es wird gar nicht als Mensch gesehen. Insbesondere auf übernachgefragte Schulen müssten die Schüler, auch welche mit schlechteren Noten, die das Konzept der Schulen brauchen, auch gehen können. Aber das ist gerade selten der Fall.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24