Verdrängung in Berlin - "Seit wir in Deutschland sind, sind wir ungefähr zehn Mal umgezogen"
Das Rollberge-Viertel in Berlin-Reinickendorf verkommt seit Jahren. Die frühere Mischung ist verloren gegangen. Das merken Bewohner wie die Assafs, Frau Bräunlich oder Marc und Hasan. Protokolle aus einem absteigenden Kiez.
Das Rollberge-Kiez im Norden von Berlin-Reinickendorf hat bessere Tage erlebt. Viele der fast 6.000 Bewohner fühlen sich im Stich gelassen. Eigentlich wünschen sie sich nichts Besonderes, nur dass ihre Häuser nach Jahrzehnten endlich saniert werden, die Fahrstühle funktionieren, die Fenster dicht sind, die Wege beleuchtet, etwas mehr Grün und Spielflächen für die Kinder.
Doch das Viertel verkommt, gut Verdienende und gut Ausgebildete ziehen fort. Die neuen Mieter sind vor allem arme Menschen, viele von ihnen konnten die Mieten in der Innenstadt nicht mehr bezahlen. Hier schildern alte und neue Anwohner, wie sie ihren Kiez erleben.
"Hätte ich mehr Geld, würde ich am Kudamm, Potsdamer Platz oder so wohnen"
Marc und Hasan, 20 Jahre
Marc: Wir sind hier in der Rollbergesiedlung großgeworden. Aber Rollberge sagt eigentlich keiner, wir kommen aus Titisee, wegen der Titiseestraße, da weiß jeder hier in Reinickendorf Bescheid.
Hasan: Der Start ins Leben ist hier schwieriger als da, wo die Reichen wohnen. Ich hab' oft die Schule geschwänzt, so ungefähr ab der 8. Klasse, stattdessen draußen rumgehangen, mich mit anderen getroffen, die auch geschwänzt haben. Meine Eltern sind in den 90ern aus Palästina hergekommen, mein Vater ist Lagerarbeiter, meine Mutter arbeitet im Jobcenter. Ich bin morgens losgegangen zur Schule, war manchmal sogar bei der ersten Stunde. Aber wenn die Eltern weg waren, bin ich wieder nach Hause.

Ich hab den Abschluss verpasst, über die Zukunft nicht nachgedacht. Irgendwann dachte ich, jetzt musst du mal langsam klarkommen, Geld verdienen. Ich hab dann als Sozialhelfer angefangen, das kannte ich hier aus dem Viertel, fand ich gut. Kindern bei den Hausaufgaben helfen und mit ihnen reden, damit sie nicht den gleichen Scheiß machen wie wir. Jetzt hab ich einen Abschluss, fange eine Erzieher-Ausbildung an. Wenn Kinder Hilfe brauchen, akzeptieren sie mich, weil ich von hier bin. Das ist hier wie ein Dorf, jeder kennt sich. Aber wenn ich mehr Geld hätte, würde ich lieber in der Innenstadt wohnen, Kudamm, Potsdamer Platz oder so.
Marc: Hasan und ich waren in der gleichen Schule, ich hab auch oft geschwänzt. Einmal hatte ich 200 versäumte Schulstunden. Als meine Noten immer schlechter wurden, gab es Stress zu Hause. Aber ich hatte keine Lust auf Schule, wollte lieber mit anderen rumhängen. Hab dann nicht mal die 9. Klasse geschafft. Dann gings zum Oberstufenzentrum, aber da hab' ich weiter geschwänzt. Eigentlich hätte ich schon mit 18 eine Ausbildung fertig haben können, jetzt mache ich auch eine Ausbildung zum Sozialhelfer wie Hasan. Ich hab das bereut, dass ich die Schule nicht geschafft habe. Wir sind zu Hause drei Kinder. Bei meinem kleinen Bruder achte ich jetzt darauf, dass er nicht die Fehler macht wie ich, der ist jetzt in der 8. Klasse.

"Wir fühlen uns hier vergessen"
Renate Bräunlich, 73 Jahre
Mein Mann und ich wohnen hier seit 1984. Da sind wir mit unseren beiden Kindern hergezogen. Mein Sohn ist inzwischen verstorben. Meine Tochter hat jetzt eine eigene Wohnung, auch hier im Viertel.
Ich bekomme nur eine kleine Rente, weil ich mehrere Jahre meinen behinderten Sohn gepflegt habe. Nach seinem Tod habe ich als Verkäuferin gearbeitet, auf selbständiger Basis beim KaDeWe und bei Wertheim. Da konnte ich nur wenig für die Rente einzahlen. Mein Mann war Textilmeister bei der Kammgarnspinnerei in Reinickendorf. Nach dem Mauerfall haben viele Firmen die Stadt verlassen, weil es keine Berlin-Förderung mehr gab. Und da hat er auch seinen Job verloren. Er war schon 53 Jahre alt. Da war es nicht mehr so einfach, eine neue Arbeit zu finden.
Wir zahlen für unsere Wohnung 800 Euro Miete, das sind 45 Prozent von unserer Rente. Da müssen wir uns bei anderen Ausgaben schon einschränken. Es ist nicht so, dass wir hungern, aber wir müssen schon mit jedem Pfennig rechnen. Beim Einkaufen achte ich zum Beispiel immer auf die Sonderangebote.
Ich bin der Meinung, dass die Siedlung gewaltig am Kippen ist. Es verkommt alles. Es wird nichts mehr gemacht. Früher gab es auch eine bessere Mischung. Wir hatten schon immer Nachbarn mit Migrationshintergrund im Haus – Vietnamesen, Iraner, Iraker, Türken. Das waren aber Leute, die sich auch eingebracht haben. Da war das Haus auch sauber.
Und jetzt? Da fliegen Müllbeutel aus dem 12. Stock aus dem Fenster. Aber das machen nicht nur die Nachbarn mit Migrationshintergrund, da sind auch Deutsche dabei. Im Moment haben wir viele Rohrbrüche im Haus. Das liegt bestimmt daran, dass die Leitungen so alt sind. Aber es wird immer nur stückweise repariert, Flickschusterei. Als ich mich bei der Wohnungsbaugesellschaft über den vielen Müll in der Siedlung beschwert habe, bekam ich erst nach acht Wochen eine Antwort. Ich wünsche mir mehr Unterstützung durch die Wohnungsbaugesellschaft. Wir fühlen uns hier vergessen.

"Wir hatten ständig Ärger mit Jugendlichen"
Thi Thu Trang Pham, Geschäftsführerin des Supermarkts
Ich bin selbständig und betreibe seit 2007 den Supermarkt "Nahkauf" hier. Damals haben wir auch noch hier gewohnt – gleich nebenan in dem Hochhaus. Da hat es uns hier auch noch gut gefallen. Die Miete war günstig. Die Kita war vor der Tür und auch die Schule. Aber vor sechs Jahren kamen viele Familien mit Kindern, die sehr frech waren, in die Siedlung. Die haben in der Schule andere Kinder beleidigt und schlimme Worte benutzt. Ich wollte nicht, dass meine Kinder auch so werden. Deshalb sind wir weg. Wir wohnen jetzt in Schmargendorf und zahlen da fast doppelt so viel Miete.
Wir hatten im Laden ständig Ärger mit einigen Jugendlichen. Die haben die Waren absichtlich in die falschen Regale gestellt, die Schokolade aufgerissen und kaputt gemacht. Die Überraschungseier zum Beispiel waren immer kaputt. Die mussten wir dann wegschmeißen. Und sie haben viel geklaut.
Es gibt einen Jugendlichen, der ist vielleicht 14 Jahre alt, der immer extra ohne Maske in den Supermarkt gekommen ist. Wenn wir ihm gesagt haben, dass er eine Maske aufsetzen soll, weigerte er sich. Er hat dann draußen auf meine Mitarbeiterin gewartet und sie auch bedroht und geschlagen. Da haben wir die Polizei gerufen und ihn angezeigt. Das hat offenbar gewirkt, denn jetzt ist es etwas besser geworden. Einer von den Jugendlichen war sogar hier und hat sich entschuldigt.
In unserem Supermarkt verkaufen wir meistens Lebensmittel von der billigen Eigenmarke. Bio-Produkte oder vegane Lebensmittel hingegen fast gar nicht. Das Geschäft läuft zwar insgesamt nicht so gut, aber wir haben auch viele nette Stammkunden und wollen hierbleiben.

"Mit jedem weiteren Verkauf des Viertels hat sich die Situation verschlechtert"
Cornelius Prade, Inhaber Titisee-Apotheke
Wir sind hier seit 1970, also von Anfang an. Da hat mein Vater die Apotheke eröffnet und ich habe als Zehnjähriger schon geholfen und Medikamente ausgeliefert. Damals gehörte das ganze Viertel der GSW. Aber die Siedlung hat ja mehrmals den Eigentümer gewechselt und mit jedem Verkauf wurde es schlechter. Es wurde wenig investiert, sondern man wollte nur die Mieten rausziehen und das Viertel dann möglichst gewinnbringend verkaufen. Und das hat sich auch auf die soziale Struktur ausgewirkt. Es wohnen immer mehr Menschen hier, die auf staatliche Förderung angewiesen sind.
Früher gab es hier nebenan noch einen Blumenladen, eine Reinigung, ein Frisörgeschäft, eine Bäckerei und einen kleinen Schreibwarenladen. Über die Jahrzehnte sind alle verschwunden. Zum Teil aus Altersgründen, zum Teil aus gesundheitlichen Gründen haben die Inhaber die Geschäfte aufgegeben. Sie wurden nicht wieder neu vermietet, weil kein Nachfolger zu finden war.
Dieses Nahversorgungszentrum fehlt jetzt hier, gerade für die Älteren. Ich wünsche mir, dass vielleicht wieder ein Bäcker herkommt oder ein anderer Dienstleister. Und die Wohnungsbaugesellschaft sollte die Häuser sanieren und auf eine bessere Mischung bei der Vermietung achten. So wie es früher mal war: Wir hatten sozial Schwächere und wir hatten Bessergestellte und das war ein wunderbares Miteinander.

"Ich möchte lieber arbeiten und nicht mehr vom Jobcenter leben"
Ahmad und Hiba Assaf aus Syrien
Meine Frau und ich wohnen hier in der Titiseestraße seit September 2020 mit unseren vier Kindern: Mahmud, elf Jahre, Aja, 9 Jahre, Mohamed Nour, 6 Jahre und Mohannad, 4 Jahre. Unser jüngster Sohn ist hier in Berlin geboren. Wir sind 2016 aus Syrien geflohen. Es gab fast jeden Tag Bombenangriffe. Meine Frau wollte, dass wir unsere Kinder in Sicherheit bringen. Deshalb haben wir unsere Heimat verlassen.
Wir sind erst in die Türkei und dann mit dem Schlauchboot über das Meer nach Griechenland. Seit wir in Deutschland sind, sind wir ungefähr zehn Mal umgezogen. Wir haben in Wohnheimen in Hellersdorf gewohnt, in Lichtenberg, Weißensee und Moabit. Deshalb waren wir sehr froh, als wir diese Wohnung gefunden haben. Hier haben die Kinder eigene Zimmer. Die Miete beträgt 890 Euro für 94 Quadratmeter. Das bezahlt das Jobcenter. Und wir bekommen auch Arbeitslosengeld II und Kindergeld. Das ist für uns genug zum Leben.
Aber trotzdem möchte ich lieber arbeiten und nicht mehr vom Jobcenter leben. Ich habe schon versucht, als Paketlieferant zu arbeiten, aber das hat noch nicht geklappt. Mein Ziel ist es jetzt, noch besser Deutsch zu lernen. Und dann möchte ich gern meinen LKW-Führerschein machen. Mein Vater hatte einen LKW, und ich habe bei ihm gelernt. Aber mein syrischer Führerschein gilt hier nicht und ich muss eine neue Fahrerlaubnis machen. Als LKW-Fahrer kann man gut verdienen, mindestens 2.000 bis 2.500 Euro netto. Meine Frau lernt auch Deutsch und will vielleicht einmal als Erzieherin arbeiten.
Unsere Kinder haben es nicht leicht in der Schule, sie haben leider nicht so viele Freunde. Wir haben auch nicht so viel Kontakt mit den deutschen Nachbarn. Bei den Schularbeiten können wir nicht immer helfen, weil wir selbst nicht so gut Deutsch können. Außerdem sind wir beide in Syrien nur sechs und sieben Jahre zu Schule gegangen. Mein Vater hatte damals gefragt, ob ich bei ihm arbeiten will. Und das wollte ich lieber, als weiter zur Schule zu gehen. Ich möchte, dass meine Kinder eine gute Ausbildung machen. Denn wir wollen hier in Deutschland bleiben.
Gesprächsprotokolle: Jana Göbel und Ute Barthel
Sendung: Abendschau, 09.02.2022, 19:30 Uhr