29 Kältetote in fünf Jahren - Nicht allen Berliner Obdachlosen kann in kalten Nächten geholfen werden

Die Kältebusse bekommen in frostigen Nächten so viele Anrufe, dass sie nicht mehr allen Menschen helfen können. Kältetote gibt es in Berlin immer wieder - allerdings werden die Todesfälle seit Jahren nicht gezählt. Von Roberto Jurkschat
In einer Nacht Mitte Februar ist Karsten R.* vor einem Hauseingang in der Kreuzberger Urbanstraße zwischen zwei Fahrradständern gestorben. Eine Frau habe den Mann am Morgen leblos an seinem Schlafplatz aufgefunden, wie ein Polizeisprecher rbb|24 sagte. Der Obduktionsbericht aus der Gerichtsmedizin liege noch nicht vor - Hinweise auf Fremdeinwirkung gebe es aber nicht. Es sei nicht auszuschließen, dass Karsten R. erfroren ist.
Nach Angaben der Senatsverwaltung für Soziales sterben auf den Straßen Berlins immer wieder Obdachlose an den Folgen von Unterkühlung. Wie viele Menschen in diesem Winter durch die Einwirkung von Kälte gestorben sind, dazu liegen der Verwaltung allerdings "keine Informationen" vor, wie ein Sprecher auf rbb|24-Nachfrage erklärte.
Auch Sprecherinnen von Polizei und Staatsanwaltschaft erklärten rbb|24, keine Angaben über die Zahl der Kältetoten in Berlin machen zu können. Es sei technisch nicht möglich, diese Information in Dokumenten der Todesermittlungsverfahren abzufragen, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft.
Berichte über Erfrorene im ersten Corona-Winter
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit (BAGW) versucht, anhand von Medienberichten über einzelne Fälle grob nachzuvollziehen, wie viele Menschen durch Kälte ihr Leben verlieren.
Im ersten Corona-Winter haben Berliner Medien nach Angaben der BAGW über drei Kältetote berichtet: Im November 2020 starb ein 55-jähriger Mann am Betriebsbahnhof Oberschöneweide bei Minusgraden allein im Freien. Im Dezember wurde dann ein 57-Jahriger bei Frost tot auf seinem Hausboot in der Rummelsburger Bucht gefunden. Ebenfalls im Dezember erfror ein Mann unter einer Autobahnbrücke am Bahnhof Rathaus Steglitz. Laut "Tagesspiegel" fand ihn eine Frau zuvor "stark zitternd" unter der Brücke, eilte nach Hause und rief den Kältebus. Dem Bericht zufolge waren die Helfer kurz darauf vor Ort, für den Mann kam die Hilfe jedoch zu spät.
29 Kältetote in fünf Jahren
Wenn Menschen auf auf einer Straße in Berlin sterben, ruft die Kriminalpolizei zur Todesfeststellung einen Arzt hinzu. Wird auf dem vorläufigen Leichenschauschein eine ungeklärte Todesursache vermerkt, leitet die Polizei den Fall an die Staatsanwaltschaft weiter, die in einem Todesermittlungsverfahrens eine Obduktion in der Gerichtsmedizin anordnen kann. Der Befund wird dann an die Staatsanwaltschaft zurückgemeldet.
Allerdings stellen die Gerichtsmediziner auch einen Totenschein aus, der nach Informationen von rbb|24 in Kopie an die Gesundheitsämter der Berliner Bezirke geschickt wird. Die Gesundheitsämter werten die Daten einmal jährlich aus - für die Gesundheitsberichterstattung des Bundes. In der sogenannten Todesursachenstatistik tragen Todesfälle durch Unterkühlung später den Code X31: "Exposition gegenüber übermäßiger natürlicher Kälte". Den Daten zufolge (gbe-bund.de) sind in Berlin zwischen 2016 und 2020 insgesamt 29 Menschen erfroren.
Kein Geld für den Kältebus
"Ohne die Kältebusse wäre die Zahl der Kältetoten in Berlin wahrscheinlich deutlich höher", sagt Kältebusfahrerin Alina Reger im Gespräch mit rbb|24. "Auf den Fahrten erleben wir Menschen in absoluten Notsituationen, deshalb ist das eine sehr existenzielle Hilfe." Dass die Kältebusse weder vom Senat noch von den Bezirken finanziert werden, nennt Reger ein "Armutszeugnis". Der Betrieb der Kältebusse ist nur dank Spenden und des Engagements 50 ehrenamtlicher Fahrer und Fahrerinnen möglich. Nach Angaben der Stadtmission spendet einzig der Bezirk Neukölln als öffentlicher Geldgeber jährlich 17.000 Euro für das Projekt. "Es geht um Leben und Tod. Aber alle machen das nur so nebenbei", sagt Reger.
Die drei Kältebusse der Berliner Stadtmission fahren zwischen November und März zu bekannten Aufenthaltsorten und Treffpunkten, um obdachlose Menschen dort mit heißem Tee und Schlafsäcken zu versorgen und sie auf ihren Wunsch in eine sichere Notübernachtung zu bringen.
Kältebusse überlastet
Im Call-Center der Kältehilfe gehen nach Angaben der Stadtmission in frostigen Winternächten 80 bis 100 Anrufe für den Kältebus ein - aber nicht alle Meldungen berücksichtigt werden. "In kalten Nächten sind wir bei der mobilen Obdachlosenhilfe in Berlin überfordert", sagt Alina Reger. Selbst bei Meldungen, die das Call-Center mit der höchsten Dringlichkeit an den Kältebus weiterleitet, liegt die Wartezeit oft bei zwei bis drei Stunden. "Wir müssen meistens anhand ziemlich grober Informationen entscheiden, wem wir helfen und wem nicht", erzählt die Kältebusfahrerin. "Und wenn wir jemandem nicht helfen können, dann können wir nur hoffen, dass diese Person die Nacht überlebt."
Wenn die Klinik den Kältebus ruft
In der Nacht auf den zweiten Weihnachtstag meldete die Stadtmission 113 Aufträge - abgeschlossen wurden davon 75, allerdings wollten die Betroffenen nach Aussagen eines Mitarbeiters in einigen Fällen keine Hilfe haben. "Es ist wichtig, dass die Menschen uns rufen, aber wichtig ist es auch, dass sich die Anrufer vergewissern, ob die betroffene Person wirklich Hilfe braucht", sagt Reger. Die meisten Kältebus-Rufe kommen von Passanten und von der Polizei, die Menschen in Notlagen im Freien finden: Ohne Schlafsack auf einem Gehweg, mit dünner Jacke auf einer Parkbank. Immer wieder kommen allersdings auch Anrufe von Berliner Krankenhäusern, in denen Obdachlose, die dort behandelt wurden, nachts nicht bleiben dürfen.
"Einige holen wir in einem extrem geschwächten Zustand ab, weil sie nach einer OP oder Behandlung in der Ambulanz ziemlich schnell auf die Straße gesetzt werden", sagt Reger. "Einzige Option sind dann meistens Notunterkünfte, die bis morgens 8 Uhr geräumt werden müssen. Dann müssen diese Menschen sofort wieder raus und durch die Stadt tingeln."
Volle Notunterkünfte im S-Bahn-Ring - freie Betten am Stadtrand
Hilfsorganisationen schätzen die Zahl der Obdachlosen in Berlin auf 10.000 Menschen, in den Notunterkünften der Kältehilfe standen laut Senatssozialverwaltung zuletzt gerade mal rund 1.100 Betten zur Verfügung.
Dennoch blieben während der Corona-Pandemie immer wieder Betten in Notunterkünften frei, im Schnitt zuletzt rund 125. In der Senatsverwaltung sieht man die Kältehilfe deshalb gut aufgestellt: "So konnten wir auch diesen Winter unser selbst gestecktes Ziel erfüllen: Wer ein Bett braucht, bekommt auch eins", erklärte ein Sprecher auf Anfrage von rbb|24.
Alina Reger sagt, dass diese Zahlen nur bedingt etwas über die Situation der Menschen auf der Straße aussagen. "Das größte Problem ist, dass viele größere Noteinrichtungen am Stadtrand liegen. Das Umfeld für viele obdachlose Menschen ist aber der Berliner S-Bahn-Ring", sagt Reger. An Orten wie Alexanderplatz, Oberbaumbrücke, Ostkreuz oder Herrmannplatz würden immer wieder Menschen bei Minusgraden ohne Isomatte oder Schlafsack liegen. "Wer obdachlos ist und kein Geld hat, kann auch nicht mal eben allein von A nach B fahren", sagt Reger.
Während der Pandemie hat sich die Lage in den Obdachlosenheimen noch einmal verschärft, Notunterkünfte mussten die Bettenzahlen reduzieren, um die Hygieneregeln einzuhalten. "In den Innenstadtbezirken sind die Unterkünfte deshalb spätestens um 0 Uhr voll, da haben wir oft keine Chance mehr", sagt Reger. "Wenn wir Menschen aus Mitte oder Kreuzberg in nach Hellersdorf fahren müssen, verlieren wir dann viel Zeit und können währenddessen auch niemand anderem helfen."
In Berlin soll es 2030 keine Obdachlosigkeit mehr geben
Die Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) hatte den Kältebus zum Amtsantritt im Dezember auf einer Fahrt begleitet. "Ich habe großen Respekt vor der Arbeit und dem sozialen Engagement der Beschäftigten und ehrenamtlich Helfenden der Stadtmission", erklärte Kipping anschließend. "In Zeiten der Corona-Pandemie und vor allem im Winter sind diese Hilfsangebote für obdachlose Menschen besonders dringend und überlebenswichtig."
Der sogenannte "Masterplan Obdachlosigkeit" des Senats sieht vor, dass Obdachlosigkeit in Berlin ab dem Jahr 2030 der Vergangenheit angehört. Nach dem Leitmotiv "Housing First" soll für Betroffene zuerst ein Heim sichergestellt werden, damit auch andere Probleme angegangen werden können, die vielfach zur Obdachlosigkeit gehören - wie etwa Alkohol- oder Drogenabhängigkeit oder psychische Probleme. Dem Programm zufolge sollen die landeseigenen Wohnungsgesellschaften feste Quoten für obdachlose Menschen einhalten, wenn sie Wohnungen in Neubau und Bestand vermieten. Bei einer Quote von zehn Prozent könnten das 2.000 Wohnungen pro Jahr sein.
Ob es seitens des Senates in Zukunft eine Finanzierung der Kältebusse geben könnte, ließ ein Sprecher der Verwaltung auf Anfrage von rbb|24 offen. Es sei vorgesehen, die Kältehilfe künftig gesamtstädtisch zu steuern, hieß es. "Die Abstimmungen hierzu laufen. Inwiefern die Kältebusse dabei einbezogen werden, muss noch geklärt werden."
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* Namen von der Redaktion geändert