Projekt in Berliner Kitas - Wie Kindern aus suchtbelasteten Familien geholfen wird

Jedes sechste Kind in Deutschland wächst in einer suchtbelasteten Familie auf - in jeder Kita-Gruppe oder Schulklasse durchschnittlich etwa drei bis vier Kinder. Suchtprävention kann daher nicht früh genug anfangen. Von Oda Tischewski
Der Vulkan macht Lust aufs Spielen: Auf einem etwa 25 Zentimeter hohen, graue Plastikfels sitzt das Dino-Junge Tika mit weit ausgebreiteten Schwingen. Was fehlt, sind seine Federn, damit es wegfliegen kann, bevor der Vulkan ausbricht. "Flieg Dino" ist ein Spiel, das der "Fluffi-Klub" in Berliner Kitas bringt. Mit Hilfe des Würfelspiels sollen Kindern ab vier Jahren lernen, Gefühle zu erkennen und einzuordnen.
Zum Vulkan gehören runde Karten mit bunten Illustrationen: Dino-Familien, die sich streiten, schämen oder freuen. Viele der Szenen werden alle Kinder kennen, es sind die kleinen Konflikte und Dramen des Alltags. Andere aber kommen vielleicht nur einigen von ihnen bekannt vor: Der wütende Papa-Saurier mit der Bierflasche in den Krallen, die Angst vor Besuch, weil die Wohnung im Chaos versinkt. Wer die Gefühle der Saurier richtig erkennt, kann für Tika Federn sammeln.

Wenn sich die Anhaltspunkte häufen
"Flieg Dino" ist nur ein Weg, wie der "Fluffi-Klub" [Projekt-Website bei nacoa.de] Kinder stark und widerstandsfähig machen will. Dazu gehört auch, die eigenen Gefühle zu kennen, Vertrauen aufbauen zu können, über Probleme zu sprechen. Dann kann geschultes Personal einhaken, versuchen zu helfen, indem es Eltern anspricht und Hilfen vermittelt, erklärt Hanna Rosebrock, Sozialarbeiterin beim "Fluffi-Klub": "Mir ist ganz wichtig, dass es nicht darum geht, Eltern anzuklagen. Die pädagogischen Fachkräfte in den Kitas bemerken aber manchmal etwas, zum Beispiel eine Alkoholfahne. Wenn das bei jemandem vorkommt, der sich normalerweise gut um das Kind kümmert, und dann passiert das einmal, dann ist das natürlich kein Anhaltspunkt. Wenn das aber regelmäßig passiert, dann guckt man da natürlich anders drauf."
Aber was können und sollten Erzieherinnen und Erzieher tun, wenn sich die Anhaltspunkte häufen? Zunächst das Gespräch mit den Eltern suchen, rät Hanna Rosebrock: "Man könnte zum Beispiel sagen: Wir würden gern mit Ihnen darüber sprechen, was wir beobachtet haben. Wir nehmen das und das an dem Kind wahr - können Sie dazu vielleicht etwas sagen? Und wenn man dann merkt, dass sich das Elternteil dazu öffnet, dann hat man einen Zugang. Wenn dann aber ein Widerstand kommt, man selber aber das Gefühl hat, da ist noch etwas im Argen, dann muss das natürlich weitergehen."
Jedes dritte betroffene Kind hat später selbst ein Suchtproblem
Weitergehen heißt in diesem Fall, dass weitere Hilfen angeboten und auch Experten von außen hinzugezogen werden können, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Wer dazu was beitragen kann und worauf Erzieherinnen und Erzieher achten sollen, das vermittelt der "Fluffi-Klub" in seinen Workshops. Anderthalb Jahre dauert das Programm, das teilweise auf der flauschigen Handpuppe "Fluffi" basiert, die dem Klub den Namen gibt.
Und das ist bitter nötig, denn gerade Kinder aus suchtbelasteten Familien tragen ein großes Risiko mit sich herum, sagt Andrea Hardeling, Geschäftsführerin der Brandenburgischen Landesstelle für Suchtfragen: "Man geht davon aus, dass ungefähr ein Drittel der Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, später selbst eine Suchterkrankung entwickelt und ein weiteres Drittel möglicherweise eine psychische Erkrankung." Im Leben der Kinder, die sich unter diesen Umständen dennoch gesund entwickeln, haben sich oft früh außenstehende Personen eingeschaltet und das Kind unterstützt. Das kann auch ein Kitaerzieher oder eine Lehrerin sein.
"Es braucht wesentlich mehr Unterstützungsangebote"
Aber Projekte wie der "Fluffi-Klub" gibt es noch zu selten, gerade einmal fünf Kitas können ihr Personal zeitgleich ausbilden lassen. Dabei ist die Nachfrage nach Informationen groß, denn dass das Problem auf dem Tisch liegt, das wissen auch die pädagogischen Fachkräfte. Was knapp ist, seien fachliche Hilfen, so Andrea Hardeling: "Es braucht wesentlich mehr Unterstützungsangebote, sowohl für die Kinder als auch für die Familien. Die Kinder brauchen Anlaufstellen, um sich Unterstützung zu holen und auch die Familien brauchen ein Signal, dass sie Hilfe erhalten können. Da muss noch wesentlich mehr passieren und das muss natürlich finanziert werden."
Finanziert werden muss auch der "Fluffi-Klub" - einen Teil fördert das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales, einen weiteren tragen die Kitas. Immer fünf Einrichtungen können zeitgleich am Programm teilnehmen, 700 Euro kostet das jede Kita. Dafür wird das Personal in mehreren Workshops intensiv geschult, wie es Suchtproblematiken in einer Familie erkennen kann, wie es reagiert und Hilfen vermittelt.
Das Schweigen brechen
Manchmal kommen Suchtprobleme in den Familien tatsächlich durch Alltagsbeobachtungen des Kitapersonals ans Licht. Manchmal sind es aber auch die Kinder selbst, die die Situation zu Hause ansprechen, erzählt Hanna Rosebrock vom "Fluffi-Klub": "Wir haben auch schon erlebt, dass Kinder sich im Rahmen des Resilienztrainings konkret geäußert haben. Wenn wir dann zum Beispiel zum Thema Gefühle arbeiten und die Frage stellen, in welchen Situationen spürst Du Angst? Und dann hat ein Kind gesagt: 'Ich habe Angst, wenn meine Mutter wieder getrunken hat und wütend ist'."
Deswegen schult der "Fluffi-Klub" nicht nur die Erzieherinnen und Erzieher: Im "Resilienztraining" lernen Vorschulkinder, was sie stark macht, nicht nur gegen Sucht: Gefühle erkennen, Grenzen setzen und sich trauen, Probleme auszusprechen.
Sendung: Inforadio, 15.02.2022, 09:00 Uhr