Interview | Lehrermangel an Berliner Schulen - "Lehrkräften wird ein zu hohes Arbeitspensum aufgedrückt"

Berliner Schulen klagen über Lehrermangel. Grund dafür sind hohe Krankenstände, aber auch fehlende Fachkräfte und mehr Lehrer in Teilzeit. Schulleiterin Beate Maedebach macht dafür vor allem die Überlastung verantwortlich.
rbb|24: Frau Maedebach, Sie sind Schulleiterin an der Kopernikus-Oberschule in Steglitz-Zehlendorf. Mussten Sie als Schulleiterin außerplanmäßig schon mal einspringen und eine Schulstunde übernehmen?
Frau Maedebach: Das machen wir ständig. Aber auch Schulleitungen sind nicht mit dem Gen der Allwissenheit gesegnet. Ich kann natürlich in einen Chemie-Unterricht im zweiten Semester in der Oberstufe gehen, aber die Schüler und ich - wir haben alle nichts davon.
Die Stunden der Kopernikus-Schule sind laut einer Tabelle der Berliner Bildungsverwaltung zu 98 Prozent gedeckt. Ist Lehrermangel an Ihrer Schule überhaupt ein Thema?
Das stimmt intern schon, wenn man sich die Planung des Schuljahres ansieht. Faktisch ist es dann doch immer anders weil bestimmte Sachverhalte in dieser Tabelle nicht abgebildet werden. Seit den Herbstferien haben wir 20 Prozent Krankenstand, allein heute haben sich acht Kollegen krank gemeldet. Wir haben zum Beispiel zwei Kolleginnen, die sind schwanger und im Beschäftigungsverbot. Oder wir haben eine Kollegin, die langzeiterkrankt ist. Das bildet dieses Portal nicht ab. Das sind Situationen, die entstehen - während des Schuljahres.
Welche Rolle spielen Vertretungskräfte im Alltag Ihrer Schule?
Davon haben wir eine ganze Reihe. Wie gut sich die Vertretungskraft integrieren kann, hängt immer ganz stark von der Person ab und auch davon, was sie ersetzen muss. Die Vorstellung, dass das fachliche immer im Vordergrund steht, das stimmt so nicht ganz. Eine Lehrkraft ist in allererster Linie eine wichtige Ansprechpartnerin, und da kommt es sehr auf die Persönlichkeit an. Manchmal gelingt das auch mit Vertretungslehrkräften gut. Manchmal aber auch nicht und dann entstehen Probleme: Es ist schwierig, wenn ich keine Ahnung habe, Mathe zu unterrichten, aber es ist auch schwierig, wenn ich ganz viel Ahnung von Mathe habe, aber nicht weiß, wie 14-jährige Schüler ticken. Da muss beides zusammen kommen. Guter Unterricht entsteht eigentlich dann, wenn eine gute Beziehungsarbeit geleistet worden ist. Das kann man nicht von jetzt auf gleich erreichen.
Was bedeutet es konkret für Schüler, wenn zu wenig Lehrer an der Schule sind oder jemand plötzlich ausfällt?
Im Prinzip läuft es erstmal darauf hinaus, dass Unterricht ausfällt. Die Schüler sagen erstmal: Hurra, Mathe fällt aus! Allerdings entstehen dadurch auch Lücken im Schulalltag. Ein Schüler kommt also in die Schule und stellt fest, dass in der vierten Stunde kein Unterricht stattfindet. Wir haben da auch Angebote: Erzieher, Sozialarbeiter und auch einen Freizeitbereich, in dem die Schüler dann betreut werden können. Das ist zuerst mal eine Hilfe. Aber letztlich ist es so, dass die kontinuierliche Arbeit im Fach dadurch unterbrochen wird. Das ist immer schlecht.
Wie wirkt sich das auf die anderen Lehrenden aus, dass zu wenig Lehrer an der Schule sind? Wie ist die Stimmung im Lehrerzimmer?
Krankheiten sind ja nicht planbar. An jedem Morgen kommen Krankmeldungen bei uns rein. Und an jedem Morgen schließt der Kollege, der den Vertretungsplan macht, um 7:15 Uhr die Tür auf, und das ist dann jedes Mal wie eine Art Wundertüte: Wer ist heute nicht da, wen muss ich heute ersetzen? Eine Lehrkraft kommt beispielsweise am Dienstag in die Schule und hat eigentlich die ersten drei Stunden Unterricht, dann zwei freie Stunden und dann hat sie nochmal zwei weitere Stunden Unterricht. In diesen freien Stunden hätte sie eigentlich frei, es kann aber sein, dass sie in diesen Stunden für eine Vertretung gebraucht wird. Dann kann sie ihren nächsten Unterricht nicht vorbereiten oder Korrekturarbeit leisten. Im Moment ist es so, dass unsere Lehrkräfte bis zu fünf solcher zusätzlichen Stunden unterrichten.
Das macht den Lehrkräften keinen Spaß. Das Schlimmste daran ist, dass sie in eine Klasse gehen, die sie gar nicht kennen, in einen Unterricht, den sie vielleicht gar nicht betreuen können, weil sie gar nicht Mathe-Lehrer sind und sie sind dann konfrontiert mit Schülern, die eigentlich dachten, sie haben jetzt frei. Und das sind die Stunden, die meinen Kollegen am schwersten fallen, das ist das Schlimmste für sie am Tag. Und das sind auch die Stunden, in denen die meisten Konflikte entstehen.
Immer mehr Lehrer gehen laut Bildungsverwaltung in Teilzeit. Worin sehen Sie diese Entwicklung begründet?
Ja, das ist auch bei uns so. Wir haben etwas mehr als die Hälfte der Kollegen, die bei uns in Teilzeit arbeiten. Manche haben eine halbe Stelle, andere kürzen einfach die Spitzen ein bisschen weg. Die Gründe sehe ich ganz klar in der Überlastung und im Generationenwechsel. Wir haben innerhalb der letzten fünf Jahre mehr als die Hälfte des Kollegiums ausgetauscht. Dabei haben wir in der Regel ältere Menschen durch jüngere ersetzt. Dadurch haben wir ein sehr familienaktives Kollegium mit Kindern im Schul- und Kindergartenalter, deshalb gehen viele in Teilzeit. Es gibt aber auch fast keinen Berufsanfänger mehr, der in Vollzeit beginnt. Alle erfahren in der zweiten Ausbildungsphase, wieviel Arbeit das ist und sagen, dass sie den vollen Dienstumfang gar nicht erfüllen können.
Sie sind mit dem Problem Lehrermangel nicht allein, das ist ein berlinweites Phänomen. Was könnte Ihrer Meinung nach das Problem lösen?
Wir sehen erste Erfolge der Verbeamtungsdiskussion, insofern als dass die ersten Kollegen aus Brandenburg zurückkehren oder gar nicht erst abwandern, weil auch in Berlin die Möglichkeit besteht, verbeamtet zu werden. Aus meiner Sicht muss man mehr auf multiprofessionelle Teams setzen, um pädagogische und andere Arbeiten auf mehr Schultern verteilt werden können. Wir haben gute Erfahrungen darin, Erzieher und Sozialarbeiter in die pädagogische Arbeit mit einzubinden. Das muss es mehr geben. Es muss mehr Zuarbeit geben, damit die Lehrkräfte sich mehr auf das Kerngeschäft konzentrieren können. Mit dem Kerngeschäft ist oft der Fachunterricht gemeint, und das ist auch richtig.
Man darf aber auch nicht vergessen, wie hoch der Stellenwert der Beziehungsarbeit ist. Gerade an Schulen - unsere Schule gehört auch dazu - , an denen Schüler sind, die aus Elternhäusern kommen, die nicht so bildungsnah sind, die eine persönlichere Ansprache brauchen - da ist die Lehrkraft eine enorm wichtige Person.
Ich bin ja auch lange Lehrkraft für Deutsch gewesen. Ich habe eine Theater-AG angeboten, und da sind die Kinder super gerne hingekommen. Dort haben sie mich auch nochmal auf eine andere Art kennengelernt. Das war vertrauensbildend sehr wertvoll. Jetzt haben wir gar nicht mehr die Möglichkeit, einer Lehrkraft auch noch eine Arbeitsgemeinschaft als Aufgabe hinzuzufügen. Wir sind froh, dass halbwegs der Deutschunterricht abgedeckt werden kann. Das geht zu Lasten der wichtigen Beziehungsarbeit.
Was muss Ihrer Meinung nach passieren, damit der Lehrerberuf an Berliner Schulen attraktiv wird und sich mehr Menschen für ein Lehramtstudium entscheiden?
Die Arbeitsbedingungen müssen sich ändern. Ich glaube, es geht gar nicht darum, dass mehr Geld bezahlt wird. Ich denke, der Lehrerberuf ist ein relativ gut bezahlter Beruf. Es geht einfach um die Arbeitsbelastung, die anders organisiert werden muss. Wir erleben gerade an den Schulen, an denen man sich mehr um die Kinder kümmern muss, wie wichtig das ist, dass Kollegen auch die Zeit haben, sich zu kümmern. Lehrkräften wird ein zu hohes Arbeitspensum aufgedrückt, was sie gar nicht leisten können - und das macht unzufrieden.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Gespräch führte Anna Bordel für rbb|24. Bei diesem Text handelt es sich um eine redigierte Fassung.
Sendung: Inforadio, 21.03.2022, 11:32 Uhr