Missbrauch Erzbistum Berlin - "Niemand ist zurückgetreten, so als wäre gar nichts gewesen"

Am Dienstag hat das Erzbistum Berlin seine neuen Maßnahmen für die Aufarbeitung und die Prävention von sexuellem Missbrauch vorgestellt. Unzureichend, finden Betroffene - und sehen noch viel "Luft nach oben". Von Carmen Gräf
Sebastian Dickhut ist 42 Jahre alt und ein ruhiger, reflektierter Mann. Er war online dabei, als am Dienstag die neuen Maßnahmen für die Aufarbeitung und die Prävention von sexuellem Missbrauch im Erzbistum vorgestellt wurden. Dickhut ist in Berlin aufgewachsen und war Ministrant in der Pfarrei Maria Rosenkranzkönigin in Berlin-Steglitz. "Als ich 16 war, erlebte ich dort sexualisierte Gewalt durch einen Priester", erzählt er.
Von Missbrauch darf er nicht sprechen, denn der Beschuldigte wehrt sich dagegen mit einer Unterlassungsklage. Die Gerichtsverhandlung wird dazu Ende dieser Woche sein.
Sebastian Dickhut hat lange gebraucht, bis er über den Vorfall mit dem Priester reden konnte. "Selbst als das 2010 am Canisius-Kolleg losging und der Missbrauchsskandal öffentlich gemacht wurde, habe ich es immer wieder weggedrückt", sagt er. "Doch irgendwann konnte ich das nicht mehr. Ich habe zwar weiter funktioniert, aber mein Leben wurde davon überschattet. Zum Glück bin ich eingebettet in meine Familie. Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft."
"Was mich schockierte, war vor allem das Leid der älteren Betroffenen"
Der 42-Jährige lebt heute mit seiner Frau und seinen vier Kindern in Fulda. 2011 begann er, über seine Erlebnisse zu sprechen. Er wandte sich ans Erzbistum Berlin. Dieses lud ihn Mitte Februar 2022 zu einem Informationstreffen für Betroffene des sexuellen Missbrauchs ein. Etwa ein Dutzend Teilnehmende seien dabei gewesen, virtuell und in Präsenz. "Was mich schockierte, war vor allem das Leid der älteren Betroffenen", sagt er. "Ein Mann über 70 erzählte, dass er es erst vor fünf Jahren geschafft habe, sich mit dem Thema Missbrauch zu beschäftigen. Und dann ging ihm langsam das Licht auf, wie das sein ganzes Leben bestimmt hatte."
Für Sebastian Dickhut war das der Impuls: "Du solltest den Ball aufnehmen und aktiver werden, denn viele andere können es nicht." Viele Betroffene sind depressiv und suchtkrank, eingeschränkt in ihrem Berufsleben und in ihren Beziehungen zu anderen Menschen.
Hohe Zahl von Missbrauchsopfern
Mindestens 112 Priester, Ordensangehörige und Mitarbeitende des Erzbistums Berlin sollen zwischen 1946 bis Ende 2021 Minderjährige missbraucht haben. Über 130 Opfer sind bisher bekannt. Nicht mitgezählt sind allerdings die rund 100 Betroffenen vom Canisius-Kolleg, das zum Jesuiten-Orden gehört und damit nicht in die Zuständigkeit des Erzbistums Berlin fällt. Die Dunkelziffer könnte weit höher liegen, hieß es in dem Gutachten der Anwaltskanzlei Redeker Sellner Dahs vor rund einem Jahr. Hierarchische Strukturen und mangelnde Kommunikation hätten Aufklärung und Prävention verhindert. "Systematische Verantwortungslosigkeit" bescheinigten die Anwälte dem Erzbistum Berlin. Dessen Leitung war entsetzt, sprach von "Schock und Scham" und wollte das Gutachten, das sie in Auftrag gegeben hatte, nicht allein auswerten. Sie berief eine Gutachten-Kommission ein. Diese stellte am Dienstag einen Maßnahmenkatalog für Aufarbeitung und Prävention vor.
Klärung von Vorwürfen an Verantwortliche im Erzbistum Trier
Doch zunächst ging es um die Klärung der Vorwürfe an fünf Verantwortliche im Erzbistum Berlin. Die Kommission hatte bei ihnen "besondere Versäumnisse" festgestellt. "Sie sind nicht des sexuellen Missbrauchs beschuldigt, aber sie sind verantwortlich für Fälle, in denen sexueller Missbrauch gemeldet wurde", betonte der Generalvikar des Erzbistums Berlin Manfred Kollig. Unabhängige Kirchenrechtler haben nun die Fälle geprüft. Danach hätten die Verantwortlichen zwar keine Pflichten im Sinne des Kirchenrechts verletzt, jedoch entspreche ihre "Zuverlässigkeit (...) nicht immer dem Anspruch, der an sie gestellt werden muss." Sie hätten Fälle mit Verzögerung behandelt, ein "Beleg für nicht optimale Arbeitsmoral und unzureichendes Verantwortungsbewusstsein."
Das Erzbistum Berlin zieht daraus Konsequenzen. Die betroffenen Mitarbeitenden dürfen zukünftig Fälle von sexuellem Missbrauch nicht mehr bearbeiten. "Wir haben gesehen, dass es nicht gut ist, wenn die unabhängigen Beauftragten (für die Opfer sexuellen Missbrauchs, Anm. der Redaktion) bei Bekanntwerden von Vorwürfen auch das Fallmanagement übernehmen", räumt Generalvikar Manfred Kollig ein. Diese stünden jetzt ausschließlich den Betroffenen zur Verfügung.
Um die Aktenführung und Beschleunigung der Verfahren kümmert sich seit anderthalb Jahren die Interventionsbeauftragte und Rechtsanwältin Birte Schneider.
Aufarbeitungskommission aus Fachleuten einberufen
Eine bistumsübergreifende und unabhängige Kommission und ein Betroffenenbeirat sollen die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs voranbringen. Sie werden für die Fälle im Erzbistum Berlin, in den Bistümern Görlitz und Dresden-Meißen und in der Katholischen Militärseelsorge zuständig sein. Die Aufarbeitungskommission soll aus Fachleuten aus den betroffenen Bundesländern eine eigene Geschäftsstelle bekommen. Unklar ist, ob es eine Fachstelle für die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in den Gemeinden geben wird.
Die Seelsorger und Seelsorgerinnen im Erzbistum Berlin sollen Anspruch auf regelmäßige psychologische Supervision haben, um die eigene Rolle und das eigene Verhalten zu reflektieren. Innerhalb der nächsten acht Wochen bekommen alle Eltern, deren Kinder zum Beichten gehen und bei denen die Erstkommunion ansteht, eine Checkliste. Anhand dieser können sie abfragen, ob Regelungen zur Sicherheit der Kinder eingehalten werden. "Wenn sie den Eindruck haben, dass das nicht der Fall ist, können sich die Eltern an die Interventionsbeauftragte wenden", sagt Manfred Kollig.
Dickhut: "Warum bekleiden diese Personen weiter Führungspositionen? "
Sebastian Dickhut findet, dass bei den Maßnahmen für die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs noch viel Luft nach oben ist: "Diese sind sicher gut gemeint, aber für Alt-Betroffene am Kern des Problems vorbei."
Aus seiner Sicht würden die entscheidenden Fragen für Betroffene vor dem Jahr 2010 gar nicht gestellt. "Es gab definitiv Menschen, die aktiv daran gearbeitet haben, dass Vorfälle nicht weitergegeben wurden", sagt er. "Warum bekleiden diese Personen weiter Führungspositionen? Warum baut Erzbischof Koch teilweise auf diese Personen in seinem Beratungsumfeld?" Die Antworten auf diese Fragen hätte der Erzbischof schon längst geben können. Er habe kompletten Zugang zu den Archiven, nicht nur zu den Personalakten, sondern auch zu sämtlichen Akten zu Sitzungen, die in den entscheidenden Jahren stattgefunden hätten.
Auch ein Jahr später ist noch niemand zurückgetreten
Das sieht Matthias Katsch von der Betroffenen-Initiative Eckiger Tisch ähnlich: "Auch ein Jahr nach der Veröffentlichung des (größtenteils geschwärzten) Gutachtens sind die Täter immer noch nicht bekannt und niemand ist zurückgetreten, so als wäre gar nichts gewesen."
Das Erzbistum kommuniziere zudem immer noch nicht direkt und auf Augenhöhe mit den Betroffenen, sondern ausschließlich über Fachstellen und externe Beauftragte, kritisiert Ellen Adler von der Betroffeneninititative Ost. Diese vertritt die Opfer aus den Bistümern der ehemaligen DDR. Der Priester, den Sebastian Dickhut der sexualisierten Gewalt beschuldigt, sei formal im Vorruhestand, halte aber zwischendurch noch Sonntagsgottesdienste ab. Bis heute habe er die mutmaßliche Tat weder gestanden noch sich dafür entschuldigt.
Das bedauerte Erzbischof Heiner Koch in einem Schreiben an den Betroffenen. "Aber Heiner Koch hat bis heute nicht verstanden, dass über dieser Ebene der Tat an sich noch ganz viele andere Ebenen sind", sagt Sebastian Dickhut. "Zunächst diejenige, wie diese Institution mit dem Wissen damals umgegangen ist." Dass sie dieses über Jahre und Jahrzehnte hinweg verdrängt und vertuscht habe, müsse die Kirche erst einmal annehmen und daraus entsprechend handeln. Ohne Druck von außen, sondern aus sich heraus. "Doch daran glaube ich nicht mehr", sagt Sebastian Dickhut.
Sendung: Abendschau, 01.03.2022, 19:30 Uhr