Von Brandenburg nach Berlin - Warum viele Pendler auch mit 9-Euro-Ticket nicht auf die Öffis umsteigen werden

Berufspendler leiden unter den steigenden Spritpreisen. Das geplante 9-Euro-Ticket für den ÖPNV könnte auch sie entlasten. Doch die Zeit- und Kostenunterschiede zwischen Auto und Öffis können je nach Wohnort sehr groß sein. Von Helena Daehler und Götz Gringmuth-Dallmer
Sebastian Gensel hat sich die Route von Fredersdorf (Märkisch-Oderland) nach Pankow mit dem ÖPNV ausgedruckt. Es ist das erste Mal seit vier Jahren, dass er für seinen Arbeitsweg nicht ins Auto steigt, sondern in die S-Bahn. Mit dem Auto bräuchte er von Tür zu Tür 55 Minuten, mit der S-Bahn sind es ab seiner Haustür am frühen Morgen fast zwei Stunden – konkret bedeutet das: eine Stunde früher aufstehen.
Autofahrende Pendlerinnen und Pendler ächzen unter den steigenden Energiepreisen. Das geplante 9-Euro-Ticket für den ÖPNV soll im Rahmen des Entlastungspakets Abhilfe schaffen, zumindest für drei Monate. Ist das für Pendler zwischen Brandenburg und Berlin wie Sebastian Gensel auch eine Option für den Umstieg auf den ÖPNV? Schließlich hat kein Bundesland einen höheren Anteil an Pendlern als Brandenburg.

1.700 Kilometer reine Arbeitsstrecke pro Monat
In Fredersdorf beginnt Sebastian Gensels Fahrt um 4:27 Uhr mit der S5 (Berliner Tarifbereich C). Seine Schicht als Koch in einer Kita in Pankow beginnt um 6 Uhr, wenn er es rechtzeitig schaffen will, darf bei den Verbindungen jetzt nichts schief gehen, dreimal muss er umsteigen.
Auf der Fahrt zum Ostkreuz hat der 43-Jährige Zeit, nochmal nachzurechnen: An 20 Arbeitstagen fährt er 1.700 Kilometer reine Arbeitsstrecke. Wegen der gestiegenen Spritpreise fährt er besonders langsam, so verbraucht sein Auto knapp 4L/100km und es entstehen monatliche Spritkosten von 150 Euro. Für ihn sei das derzeit noch zu stemmen, sagt er. Eine reguläre VBB-Umweltkarte für den Tarifbereich ABC würde ihn monatlich 107 Euro kosten, im Jahresabo 84 Euro pro Monat. Für ihn spielt aber auch Komfort eine Rolle. Ausgerechnet auf seiner ersten Fahrt in der S-Bahn wird es an diesem Morgen auch etwas unangenehm: Ein Mann ohne Hosen steigt ein und uriniert in ein Viererabteil hinter ihm. "Im Auto sitze ich alleine, da passiert sowas nicht." Sebastian Gensel nimmt es gelassen.
Schwankende Zeitersparnis
Ob sich Pendeln mit dem ÖPNV lohnt, lässt sich nicht pauschal beantworten. Zwei exemplarische Stichproben zeigen markante Unterschiede je nach Wohnort in Brandenburg. Ein Positivbeispiel fürs Pendeln mit Bus und Bahn zeigt sich bei der Anfahrt aus Eberswalde. Die Fahrtzeit, gerechnet von Eberswalde Bahnhof nach Berlin Hauptbahnhof, beträgt 37 Minuten. Mit dem Auto dauert es unter idealen Verkehrsbedingungen fast doppelt so lang.
Im Gegensatz dazu sind Autopendler aus Velten mit im besten Falle 30 Minuten Fahrtdauer schneller in Berlin am Ziel als die Bahn, die 20 Minuten länger braucht. Zu beachten: Start und Endpunkt sind hier jeweils ein Bahnhof.

Klare Kostenersparnis
Bei den Kostenunterschieden zwischen PKW und öffentlichen Verkehrsmitteln wiederum zeigt sich für Pendlerinnen und Pendler aus dem Berliner Speckgürtel die Tendenz, dass bei einer durchschnittlichen Strecke von circa 30 Kilometern, die sich im Tarifgebiet ABC des VBB befindet, das Pendeln mit den öffentlichen Verkehrsmitteln halb so teuer ist. Zu beachten: Hier werden nur die Spritkosten, nicht die Kosten für das Auto berücksichtigt. Mit der Einführung eines 9-Euro-Tickets sähe das natürlich noch viel eindeutiger aus.
Die Pläne für eine kurzfristige Preissenkung des Monatstickets wertet der Mobilitätsforscher Andreas Knie grundsätzlich als positives Signal, rechnet angesichts der drei Monate aber nur mit "Mitnahmeeffekten" und keinem langfristigen Umstieg bei Pendlerinnen und Pendlern. "Wenn die Preise dauerhaft sehr viel niedriger werden, gehen wir davon aus, dass zehn bis 20 Prozent der jetzigen Autofahrenden umsteigen würden", so der Forscher vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) gegenüber dem rbb. "Aber eben nur zehn bis maximal 20 Prozent, mehr nicht." Die anderen 80 Prozent seien in ihren Strukturen zu sehr festgelegt.
Die letzte Meile mit dem Taxi
"Das Problem ist natürlich, dass viele in den Speckgürtel gezogen sind oder sich von dort beruflich in die Stadt orientiert haben, weil sie immer das Auto im Hinterkopf hatten", erklärt Verkehrsforscher Knie. So sei eine große Auto-Abhängigkeit geschaffen worden. Handlungsbedarf sieht Knie besonders bei der sogenannten letzten Meile: Der Weg vom Bahnhof bis zum Wohnort.
"Deshalb plädieren wir schon seit Längerem dafür, dass man die letzte Meile ganz einfach macht. Das heißt, jeder Mensch, der an einer S-Bahn-Station ankommt, kann zu seinem Wohnort mit dem Taxi fahren – und zwar zum Preis des ÖPNV." Dazu seien die Forscher auch schon mit einigen Bezirken im Gespräch. Die Kosten müssten dann der Senat und der Bund kompensieren. Auch Anrufsammeltaxen wie das in Lichtenberg von der BVG geplante ViaVan seien sinnvolle, weil flexible Ergänzungen zum ÖPNV.
25 Minuten Zeitverlust beim Umsteigen
Sebastian Gensel ist an diesem Tag pünktlich in Pankow angekommen – und doch ist für ihn klar: Umsteigen lohnt sich für ihn nicht. Dabei sind die Kosten für ihn nicht ausschlaggebend, viel mehr sind es die ungünstigen Verbindungen beim Umsteigen. "Ich verliere allein 25 Minuten nur durch Warten auf die Bahn." Und auch die Zuverlässigkeit der S-Bahn macht ihm Sorgen. "Behinderung, Signalstörung, Zugausfälle... So oft wie die S5 gesperrt war, wie Schienenersatzverkehr war in beiden Richtungen. Das verdirbt Dir echt die Laune mit der Bahn zu fahren."
Würde es ein dauerhaft günstigeres Monatsticket und eine bessere Taktung geben, wäre es Sebastian Gensel aber nochmal eine Überlegung wert, das Auto häufiger stehen zu lassen.
Sendung: rbb24 Abendschau, 04.04.2022, 19.30 Uhr