Lebensgefühl und Akzeptanz - So geht es schwulen Männern in Berlin

Am Dienstag ist der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter*- ,Trans*-, und Asexuellenfeindlichkeit – der IDAHOBITA. Dabei sind gerade schwule Männer doch schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Oder? Von Christopher Ferner
Egal ob Fernsehserien, Werbeanzeigen oder auf dem Christopher Street Day – es sind vor allem schwule Männer, die unter queeren Menschen Repräsentanz finden. Das hat nicht nur Auswirkungen darauf, wie nicht-queere Menschen LSBTI, also Lesben, Schwule, trans Personen und inter Personen, wahrnehmen. Eine amerikanische Studie der Dating-App "Her" ergab, dass sich 31 Prozent der befragten Frauen bei Pride-Veranstaltungen, die eigentlich alles Leben abseits des Heteronormativen zelebrieren sollte, nicht repräsentiert sehen.
Diese Sichtbarkeit und eine damit einhergehende Dominanz schwuler Männer prägt auch das Berliner Leben. Zwar gibt es beispielsweise immer mehr Partys, die ein queeres Publikum oder FLINTA ansprechen wollen, also Frauen, Lesben, inter Personen, nicht-binäre Personen, trans Frauen und genderlose Personen. Schwule Männer genießen jedoch nach wie vor ein breiteres Angebot an Bars, Clubs und Veranstaltungen.
Man könnte also meinen: Schwule Männer haben es geschafft. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und Haupt-Nutznießer einer Entwicklung hin zu mehr Toleranz gegenüber nicht-heteronormativen Lebensweisen. Während diesen Aussagen zum Teil Wahrheit anhaften mag, haben schwule Männer nach wie vor mit einer Reihe von spezifischen Problemen zu kämpfen. Zudem hat die hohe Sichtbarkeit auch ihren Preis – selbst in einer Stadt wie Berlin, die sich gerne als Hotspot der Freiheit und Vielfalt feiert.
Beleidigen, spucken, schlagen
Denn nach wie vor sind Menschen, die sich in der Öffentlichkeit als LSBTI sichtbar zeigen, einem hohen Gewaltpotential ausgesetzt. "Innerhalb der Gruppe der LSBTI sind schwule Männer die hauptbetroffene Gruppe von Übergriffen und Angriffen in der Öffentlichkeit", sagt Bastian Finke vom schwulen Anti-Gewalt-Projekt Maneo. "Die hohe Sichtbarkeit wird von Teilen der Gesellschaft mit Gewalt sanktioniert." Diese reiche von Beleidigungen über Anspucken bis zu körperlichen Übergriffen.
Laut Maneo kam es 2021 zu 220 homo- und transfeindlichen Angriffen in der Hauptstadt. 145 Fälle richteten sich gegen schwule und bisexuelle Männer, 18 gegen trans Personen, sieben gegen lesbische oder bisexuelle Frauen und 23 Fälle gegen LSBTI allgemein.
Diese Zahlen sprechen auf den ersten Blick zwar eine deutliche Sprache - sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Denn laut dem Berliner Monitoring zu trans- und homophober Gewalt melden Frauen Gewalttaten seltener. Laut dem Monitoring haben 97 von 188 befragten Frauen von Gewalterfahrungen berichtet. Doch lediglich drei meldeten die Vorfälle bei der Polizei.
Allerdings spiegeln auch die 220 schwulenfeindlichen Fälle im Jahr 2021 nicht die tatsächlichen Übergriffe wider. Auch hier dürfte die Dunkelziffer um einiges höher liegen. Für homo- und transfeindliche Gewalt insgesamt wird sie auf 80 bis 90 Prozent geschätzt. Finke von Maneo zumindest zweifelt wegen dieser Zahlen an der Aussage, dass schwule Männer in der Mitte der Gesellschaft angekommenen seien.
Sexuelle Gesundheit
In Berlin gibt es nicht nur mehr Bars und Clubs für schwule Männer. Auch die Anzahl der Gesundheits- und Beratungsstellen für Männer, die Sex mit Männern (MSM) haben, ist höher als jene, die sich an lesbische und bisexuelle Frauen richten. Das hat laut Jacques Kohl, psychosozialer Leiter des Checkpoints BLN in Neukölln, zum einen historische Gründe: "Diese Institutionen sind aus der Aids-Krise in den 80er-Jahren hervorgegangen, die vor allem Männer betraf, die Sex mit Männern hatten."
Doch auch aktuelle Probleme, die immer noch vor allem schwule Männer betreffen, führten dazu, dass das Beratungsangebot für MSM nach wie vor größer ist. Laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts sind von 15.400 Menschen in Berlin, die mit HIV leben, rund 11.100 Männer, die Sex mit Männern haben. Das liegt zum einen daran, dass die Gefahr einer Ansteckung bei ungeschütztem Analverkehr deutlich höher ist als bei vaginalem Sex. Doch laut Kohl hat es auch etwas mit Lebensweisen zu tun. "In queeren Communities wird Sexualität deutlich freier ausgelebt", erklärt der Psychologe.
Zwar seien gerade schwule und bisexuelle Männer aufgeklärt in Sachen sexueller Gesundheit und würden überwiegend sichere Sexpraktiken ausüben. Auch die Therapiemöglichkeiten für Menschen, die das Virus in sich tragen, seien in Deutschland und gerade in Berlin gut. "Doch nach wie vor gibt es ein Stigma rund um HIV, das Menschen daran hindert, sich regelmäßig testen zu lassen", sagt Kohl. Deshalb müsste mehr Aufklärungsarbeit geleistet werden.
Keine Party ohne Drogen
Ein weiterer Faktor, der sexueller Gesundheit im Weg stehen kann, sind Drogen. Denn die bestimmen in zunehmendem Maße nicht nur das Berliner Nachtleben, sondern werden auch für das Sexleben von Männern, die Sex mit Männern haben, zunehmend wichtiger.
Auf sogenannten Chemsex-Drogen wie Mephedrone, Crystal oder GHB sinkt die Hemmschwelle für Konsument:innen, sich beim Geschlechtsverkehr gegen sexuell übertragbare Krankheiten zu schützen. "Vor drei bis vier Jahren kamen nur etwa 20 Prozent der queeren Männer zu uns, weil sie Schwierigkeiten mit sogenannten Partydrogen hatten, also Speed, Ecstasy, Kokain und Ähnliches. Von den etwa 3.000 Kontakten, die 2018 zu uns kamen, hatten rund 50 Prozent eine Problematik mit Chemsex-Drogen, Tendenz steigend", sagte Conor Toomey von der Sucht- und Drogenstelle der Schwulenberatung Berlin dem Magazin "Siegessäule".
"Es gibt immer eine Verbindung zwischen Diskriminierung und Erkrankung"
Wer sich Online-Kommentare zu entsprechenden Artikeln über Chemsex durchliest, liest viel darüber, dass die Menschen an ihren Konsum selbst schuld seien. Doch wer sich die Gründe für den Konsum anschaut, muss auch andere Faktoren als reinen Hedonismus in einen Erklärungsversuch für dieses Phänomen mit einbeziehen. Laut einer Studie der London School of Hygiene & Tropical Medicine nehmen diese Männer Drogen beim Sex, weil sie es erst durch den Konsum schaffen, ihr mangelndes Selbstvertrauen zu stärken. Laut Experten könnten so schnell Suchtprobleme entstehen und Sex ohne Drogen für die Menschen irgendwann gar nicht mehr möglich sein.
Dieses mangelnde Selbstwertgefühl und der daraus entstehende Konsum kann aus dem sogenannten Minderheitenstress entstehen. Dieser ist eine Folge von Diskriminierungserfahrungen und negativen Einstellungen gegenüber queeren Menschen. Das kann zu psychischen Krankheiten und im schlimmsten Fall zu Suiziden führen – aber eben auch zu erhöhtem Drogenkonsum. Das bestätigt auch Kohl: "Es gibt immer eine Verbindung zwischen Diskriminierung und Erkrankung. Diese Erkrankungen können sowohl physischer als auch psychischer Natur sein." Drogenmissbrauch könne dann der Versuch sein, mit eben jenen negativen Gefühlen umzugehen.
Wirklich in der Mitte der Gesellschaft?
Bars, gesundheitliche und sexuelle Beratungen oder auch unkonventionellere Treffen wie Yoga für schwule Männer – die Angebote für Männer, die Sex mit Männern haben, sind in Berlin im bundesweiten Vergleich einzigartig. Gleichzeitig haben schwule Männer in der Hauptstadt nach wie vor mit vielen Problemen zu kämpfen – und bezahlen ihre Sichtbarkeit mit einem hohen Maß an Gewalt.
Während diese Personengruppe auf der einen Seite also Privilegien innerhalb der queeren Communities sowie auch bei der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft genießt, kann nicht davon die Rede sein, dass sie in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Dann hätten sie mit den gleichen Problemen wie die mehrheitlich heterosexuell lebende Gesellschaft zu kämpfen. Und die wird bekanntlich wegen ihrer Sexualität weder beleidigt, bespuckt noch brutal zusammengeschlagen.
Sendung: rbb24 Abendschau, 17.05.2022, 19:30 Uhr