Party statt Krawalle - Der gezähmte 1. Mai

Anders als im Vorjahr blieb die große Eskalation am 1. Mai in diesem Jahr aus. Die Polizei hatte alles unter Kontrolle. Die Gewaltbereiten unter den Demonstrierenden der "Revolutionären 1. Mai"-Demo fanden keinen Anschluss. Von Olaf Sundermeyer
Am Ende des Tages tobten sich im Schein der mobilen Flutlichtmasten die zwei gegnerischen Gruppen über eine Spielzeit von einer guten Stunde aus: Unter den Stiefeln der Bereitschaftspolizisten auf der einen Seite und den Turnschuhen der Autonomen gegenüber wirbelte auf dem Oranienplatz reichlich Staub auf. Er verfing in den Wolken aus Pfefferspray und legte sich auf die Körper derer, die sich eine Art Ringkampf in der Masse lieferten. Böller krachten, Flaschen flogen, immer wieder wurden einzelne Protestierer aus dem schwarzen Menschenknäuel gezogen, dem so allmählich die Kraft ausging.
"Team Blau" in der Vorhand
Wie in einer Manege: Ringsherum das Publikum, entspannt in der ersten Reihe auf den Bierbänken des nahen Cafés Kuchen Kaiser. Oder tanzend, trinkend, schlendernd auf der angrenzenden Oranienstraße. Am Ende obsiegte das "Team Blau" der Polizei. Die übrig gebliebenen Autonomen trollten sich, einige schlossen sich der unangemeldeten Kreuzberger Freiluftparty an, die bereits seit dem Nachmittag lief.
Im Ergebnis stehen nun 29 verletzte Polizisten auf der einen, und 74 vorläufige Festnahmen auf der anderen Seite - 37 Personen blieben in Gewahrsam. Im Vergleich zum Vorjahr blieb der Schaden gering, als die Polizei für über eine Stunde die Kontrolle über einen kompletten Kiez entlang der nördlichen Sonnenallee in Neukölln verloren hatte.
Damals gingen dort die Provokationen und Angriffe von einigen Gewalttätern der linken Szene aus, zahlreiche Bewohner machten mit: So wurden die Krawalle erst groß. Einige derselben politischen Gewalttäter waren in diesem Jahr bei der "Revolutionären 1. Mai"-Demo wieder dabei, aber die erlebnisorientierten jungen Erwachsenen aus dem Kiez hatten anderes zu tun: Den langen Demo-Zug ließen sie wie einen Karnevalsumzug durch ihren Stadtteil ziehen, während sie selbst am Rand feierten.
Volksfeststimmung anstatt Krawalle
Es herrschte Volksfeststimmung, zum Ärger der Demo-Organisatoren, die das in einzelnen Redebeiträgen kritisierten. Hatte doch der Bezirk Neukölln selbst zu mehreren Festen aufgerufen, um den Tag zu befrieden. Das Szenario vom 1. Mai 2021 sollte sich keineswegs wiederholen. Tat es dann auch nicht.
Die Demo führte wegen der Feste über ein paar kleine Umwege, wuchs an, wurde laut, und erreichte Kreuzberg schließlich im geschlossenen Verbund. Den Kotti, wo sich die Wut an einer geplanten Polizeiwache mitten in dem von Linken beanspruchten Kiez entladen sollte, hatte die Polizei zuvor zu einer dichten Wagenburg ausgebaut. Die Seitenstraßen waren abgesperrt. Ab dem Übergang von Neukölln nach Kreuzberg war es für die Teilnehmer bis zum Ende der geplanten Route am Oranienplatz kaum mehr möglich, den Demo-Zug zu verlassen.
Vor allem darüber ging das personalintensive Einsatzkonzept der Polizei auf. Selbst die erwartete, gegen begleitende Journalisten gerichtete Aggressivität des "Schwarzen Blocks", zu dem sich rund 500 vermummte Aktivisten zusammengefunden hatten, hielt sich in Grenzen. (Vielen Dank dafür!) Reporter konnten zumeist unbehelligt ihre Arbeit machen.
Dann war da noch der deutliche pro-palästinensische Einschlag des ersten Demo-Blocks: Ausdruck des zunehmenden Einflusses von zum Teil auch antisemitischen Gruppen in der linken Szene Berlins, die über das Existenzrecht Israels gespalten ist. Die für die Linke entscheidenden Frage: 'Wie hältst Du es mit Israel?' führt dazu, dass sich inzwischen viele linke Aktivisten von der "Revolutionären 1. Mai"-Demonstration fernhalten. Die antisemitischen Vorfälle auf Demonstrationen in der jüngsten Zeit in Berlin dürften den Trend verstärkt haben. Den Innenbehörden gilt die linksextreme Szene maßgeblich geschwächt, auch zahlenmäßig.
Eierwurf "wirkungsvollster Auftritt" am 1. Mai
So hatte der "klassenkämpferische Block" der "Revolutionären 1. Mai"-Demo seinen wirkungsvollsten Auftritt schon am Mittag mit den wütenden Protesten gegen die Rede der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey auf der DGB-Kundgebung am Brandenburger Tor. Dabei konnten Leser der Tageszeitung "taz" im Vorfeld wissen, was dort passiert. Zumal ein Hauptthema des "klassenkämpferischen Blocks" der explodierende Berliner Wohnungsmarkt und die Enteignungsfrage sind, an der sich aktuell der meiste linke Ärger in Berlin entzündet.
Ein Sprecher hatte in einem Interview im Vorfeld angekündigt, dass die Regierende Bürgermeisterin auf der Demo nichts zu suchen habe [taz.de]: "Giffey ist mit ihrer Positionierung gegen die Enteignung eine Vertreterin der Immobilienlobby." Wenn sie auf der Kundgebung spricht, werde es Proteste dagegen geben, die sicht- und hörbar sein werden. "Dabei wird die Forderung nach Vergesellschaftung der privaten Wohnungsbestände einen prominenten Raum einnehmen."
So kam es dann auch. Ein Eierwurf auf die Politikerin, der von einem ihrer Personenschützer abgefangen wurde, ging als Video auf Twitter viral unter dem Hashtag #GiffEI.
Langjährige Kundgebungsteilnehmer kommentierten den organisierten Protest, das gellende Pfeifkonzert mit dem Hinweis, dass sie sich auf derlei Ablehnung gegen eine sozialdemokratische Politikerin bei einer DGB-Veranstaltung nicht erinnern konnten.
Am Nachmittag dann kam die derart gestresste Franziska Giffey auf einem Kinderfest in der Erkstraße eine Weile zur Ruhe - im befriedeten Neukölln.
Sendung: rbb24 inforadio, 02.05.2022, 15 Uhr