Verkehrswende - Warum Berliner Fahrradstraßen von vielen Autofahrern ignoriert werden

Vor mehr als 20 Jahren schon wurde in Berlin die erste Fahrradstraße ausgewiesen. Theoretisch haben die Radler hier Vorrang vor dem Autoverkehr. Das klappt in der Praxis aber noch immer viel zu selten. Von Nico Hecht
Von Verkehrsberuhigung kann an der Stargarder Straße in Berlin-Prenzlauer Berg keine Rede sein: viele Autos, meist schnell unterwegs und der Lärmpegel ist hoch. Die Schilder an allen Kreuzungen der Stargarder "Fahrradstraße" mit dem Zusatz "Anlieger frei" scheinen hier keinen Autofahrer zu bremsen.
Das beobachtet auch Tobias Kraudzun von der Initiative Netzwerk Fahrradfreundliches Pankow. Eigentlich sagt er, habe man hier beim Radfahren fast immer Pkw im Rücken. Das sei auch kein Wunder – denn weitere Hinweise als die Fahrradstraßen-Schilder gebe es kaum. "Zudem ist die Straße gut sechs Meter breit. Da hat man als Autofahrender auch schnell den Eindruck, man kann den ganzen Platz nutzen. Und wenn man meint, man müsse mal schnell überholen, macht man das auch."
Von Vorrang für Radler ist auf der Stargarder nichts zu spüren
Die Radfahrenden haben sich offenbar darauf eingestellt. Die meisten fahren weit rechts, möglichst dicht an den parkenden Autos, damit sie die Fahrzeuge auf der Straße möglichst wenig behindern. Dabei sollten hier doch eigentlich die Radler Vorrang haben.
Aber das entwickele sich erst nach und nach, sagt Tobias Kraudzun. Kurz nach der Eröffnung Ende Dezember seien die Fahrradstraßenregeln hier noch komplett ignoriert worden, sagt er. Jetzt trauten sich immerhin auch schon manche Eltern mit ihren Kindern mit dem Rad auf die Straße, etwa der Lehrer Andreas Kornehl: "Zumindest wird man jetzt nicht mehr so oft angehupt, wenn man nebeneinander fährt. Das ist schon ein riesiger Fortschritt".
Regeln für Fahrradstraße kennen viele nicht
Auf Fahrradstraßen ist das ausdrücklich erlaubt. Schilder oder Fahrbahnmarkierungen weisen darauf hin. Für Fahrradstraßen gilt außerdem: Radler haben Vorrang. Höchstgeschwindigkeit sind 30 Kilometer pro Stunde. Beim Überholen muss ein Mindestabstand von eineinhalb Metern eingehalten werden.
Mit dem Auto darf hier nur fahren, wer hier wohnt, jemanden besucht oder etwas zu erledigen hat, also zum Arzt will oder ein Geschäft beliefern muss. Doch viele Autofahrer kennen diese Regeln gar nicht. Das bestätigt auch Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Die UDV habe zusammen mit der Polizei Autofahrer befragt, die trotz Warnschild eine Fahrradstraße befahren haben und festgestellt, "dass sehr viele Autofahrer den Bedeutungsinhalt des Schildes 'Fahrradstraße' nicht kennen oder zumindest nicht alle Inhalte."
Sind Fahrradstraßen Alibi-Politik?
Das sei aber lange bekannt. Deswegen sei es schlicht "Alibi-Politik", einfach nur ein Schild "Fahrradstraße" aufzustellen, sagt Brockmann. Zu größeren Eingriffen in den Verkehr fehle in den Berliner Bezirken oft der Mut, sagt Tim Ullrich von der Verkehrswende-Initiative Changing Cities.
Auch in der Stargarder Straße hat es bisher nur zu Schildern gereicht – obwohl im Leitfaden für Fahrradstraßen der Senatsverwaltung für Verkehr klar empfohlen wird, Durchgangs-Autoverkehr auch durch bauliche Maßnahmen zu verhindern, und zwar mit sogenannten Modalfiltern. Bei einem Modalfilter handelt es sich zum Beispiel um einen Poller oder eine ähnliche Durchfahrsperre. Sie lassen Fahrräder passieren, stoppen aber Autos oder zwingen die Fahrer an Kreuzungen zum Abbiegen. 22 Jahre nach der Ausweisung der ersten Fahrradstraße in Berlin, der Linienstraße in Mitte, sind diese Filter aber immer noch selten.
In der Körtestraße klappt es dank nur kleiner Maßnahmen
In Kreuzberg blockiert ein Modalfilter seit Mai letzten Jahres erfolgreich den Durchgangs-Autoverkehr in der Körtestraße. Sie ist Teil der Fahrradstraße von der Hasenheide über die Urbanstraße bis zum Planufer am Landwehrkanal. Zuvor hatten sich auch hier Anwohner immer wieder beschwert, dass sich kaum ein Autofahrer an das Durchfahr-Verbot halte. Für eine Autosperre habe sich der Bezirk dann entschieden, als sich auf dieser eigentlich verkehrsberuhigten Fahrradstraße Mitte letzten Jahres zwei Pkw-Fahrer ein illegales Rennen lieferten, sagt Felix Weißbrich, Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes in Friedrichshain-Kreuzberg.
Diesen Modalfilter würden Laien wahrscheinlich einfach Poller nennen. Der Bezirk hat hier ein versenkbares Exemplar installieren lassen – ein Novum auf Berliner Fahrradstraßen: ein silberner Zylinder, gut 30 Zentimeter im Durchmesser. Der verhindere das Durchfahren der Körtestraße, erklärt Weißbrich. Anwohner- und Lieferverkehr kommen nur noch auf einer Seite hinein und wieder heraus. Müllabfuhr, Rettungsdienste und Feuerwehr hingegen haben freie Fahrt. Sie sind mit einem Transponder ausgestattet, mit dem sie den Poller nach unten ins Straßenpflaster verschwinden lassen können. Das passiert nahezu lautlos.
Poller verwandeln Körtestraße in Flaniermeile
An der Körtestraße reihen sich Eisdiele, Restaurant, Blumen- und Antiquitätenladen zu einer Flaniermeile, auf der tatsächlich niemand, wie in der Stargarder Straße, den Autolärm übertönen muss.
40.000 Euro habe dieser versenkbare Poller gekostet. Gut angelegtes Geld, sagt Felix Weißbrich. Denn diese Straße sei somit wieder ein Stück städtischer Raum geworden, anstelle einer Durchgangsstraße. "Das betrifft das Aussehen der Straße. Der Lärm ist verschwunden, und man kann in Ruhe und sicher mit dem Rad hier durch fahren."
Sendung: rbb24 Inforadio, 25.05.2022, 9:25 Uhr
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