Interview | Internationaler Tag der Pflegenden - "Pflegende Angehörige sind keine Selbstverständlichkeit"

Schätzungsweise mehr als 200.000 Menschen in Berlin pflegen ihre Angehörigen. Der Leiter der Fachstelle für pflegende Angehörige, Frank Schumann, wünscht sich, dass sie nicht von den beruflich Pflegenden getrennt werden.
rbb: Herr Schumann, wie unterstützt die Fachstelle für pflegende Angehörige Ratsuchende konkret?
Frank Schumann: Die Fachstelle versucht, pflegende Angehörige an die passende Stelle im Beratungs- und Unterstützungssystem zu vermitteln. Wenn es Fragen zu Anträgen, Widersprüchen und Pflegeorganisation gibt, stellen wir den Kontakt zu den Pflegestützpunkten her. Wenn pflegende Angehörige eine Selbsthilfegruppe suchen, begleiten wir die Kontaktaufnahme, wenn sie sich überfordert fühlen, vermitteln wir psychologische Beratung.
Vor allem aber entwickelt die Fachstelle Möglichkeiten zur Beteiligung pflegender Angehöriger in pflegerischen Entwicklungsprozessen in der Stadt: Pflegepolitische Dialogforen auf Bezirks- und Landesebene zum Beispiel. Oder die Woche der pflegenden Angehörigen, die am 14. Mai mit einer Ehrung am Roten Rathaus beginnt.
Wir wollen Anerkennung und Unterstützung für pflegende Angehörige in der Gesellschaft, wir wollen weg von der unentgeltlichen Pflege in Familie und sozialem Umfeld als Selbstverständlichkeit, hin zu einer gesellschaftlich anerkannten Leistung.
Mit welchen Problemen sehen sich die Ratsuchenden am häufigsten konfrontiert?
Zunächst einmal ist da der große Bürokratismus, bei dem sich viele An- und Zugehörige in ihrer individuellen Problematik nicht wahrgenommen fühlen. Zum Beispiel ist bei der Kostenübernahme für Hilfsmittel und Entlastungsleistungen vieles so starr geregelt, dass die zuständigen Mitarbeiter bei den Kostenträgern wenig Raum für individuelle Entscheidungen haben. Dann müssen Hilfsmittel, die nicht zum Standard gehören, mühevoll erstritten werden.
Ein weiteres Problem ist die sehr unterschiedliche Infrastruktur an Unterstützungsangeboten. In der Innenstadt von Berlin gibt es oft ein gutes Angebot an ambulanten Diensten, Tagespflegeeinrichtungen, Selbsthilfegruppen und Angeboten von Verhinderungspflege. Das sieht am Stadtrand oft schon ganz anders aus - von ländlichen Gebieten in Brandenburg ganz zu schweigen.
Kurzzeitpflegeangebote sind grundsätzlich Mangelware, und für junge pflegebedürftige Menschen gibt es sie gar nicht. Das große Problem ist, dass die von der Pflegeversicherung eingesparten Mittel nicht für andere Angebote genutzt werden können. Wenn ich zum Beispiel in meiner Region keine Tagespflege nutzen kann, weil es sie nicht gibt, kann ich diese Mittel nicht für Nachbarschaftshilfe oder einen Pflegedienst verwenden.
Welche Herausforderungen brachte die Corona-Pandemie für pflegende Angehörige mit sich?
Da ging es zunächst um das Thema Schutzkleidung, die plötzlich für pflegende Angehörige unbezahlbar wurde. Danach um die Schließung von Tagespflegen: Hier gab es keinen Ersatz - und die Mittel konnten auch nicht zur Finanzierung anderer Entlastungen, wie zum Beispiel Nachbarschaftshilfen, eingesetzt werden.
Natürlich gab es viele Fragen und tiefe Verzweiflung in den Zeiten, als die Krankenhäuser und stationären Pflegeeinrichtungen fast hermetisch abgeriegelt waren. Auch die Impfpriorisierung und der Zugang zu Schnelltests – vor der Einführung der Bürgertests - warf für pflegende Angehörige viele Fragen auf.
Vor allem wurde ein großes Problem durch die Corona-Pandemie überdeutlich: die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Weil die Entlastungsangebote stark eingeschränkt waren, mussten nicht wenige Angehörige die eigene Berufstätigkeit reduzieren oder gar aufgeben. Hätten sie dieses Opfer nicht gebracht, wären viele Pflegebedürftige unversorgt geblieben.
Wo kommt Ihre Fachstelle an ihre Grenzen?
In einer Stadt mit fast vier Millionen Einwohnern, von denen mindestens 220.000 pflegende Angehörige beziehungsweise Nahestehende sein dürften, kann eine Stabstelle mit 3,5 Personalstellen natürlich nicht allein die Welt verändern.
Wir sehen uns als Impulsgeber und als Initiator für eine Veränderung der Rahmenbedingungen. Und als Mahner, die pflegenden Angehörigen nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern die pflegerische Versorgung in Berlin in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Und da sind und bleiben die pflegenden Angehörigen nun mal die größte Säule. Die Herausforderungen der demografischen Veränderung können wir als Gesellschaft nur bewältigen, wenn wir die berufliche Pflege mit der Pflege durch Nahestehende bestmöglich verzahnen.

Welche Wünsche und Forderungen haben Sie an die Politik?
Vor allem ist mir wichtig, dass die Politik mutiger wird, wenn es um die Unterstützung pflegender Angehöriger geht. Interessenvertretungen sollten an pflegerischen Entwicklungen und Gesetzesverfahren grundsätzlich beteiligt werden, auch wenn es nicht immer angenehm ist zu hören, was noch nicht so gut funktioniert.
Ich wünsche mir außerdem, dass es eine echte Pflegestrategie gibt, ohne dass pflegende Angehörige und beruflich Pflegende getrennt betrachtet werden. Diese Bereiche dürfen keinesfalls in Konkurrenz zueinander gestellt werden, denn die Bedürfnisse bei der pflegerischen Versorgung sind bei den Pflegebedürftigen individuell sehr unterschiedlich.
Und nicht zuletzt wünsche ich mir die zeitnahe Umsetzung der schon vielen Jahre diskutierten notwendigen Verbesserung zur Unterstützung pflegender Angehöriger, vor allem eine Lohnersatzleistung bei Reduzierung der Arbeitszeit aufgrund der familiären Pflege und ein wirklich flexibel einsetzbares Entlastungsbudget statt einer Versäulung einzelner Budgets für einzelne Entlastungsarten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Rocco Thiede.
Sendung: rbb24 Abendschau, 12.05.2022, 19:30 Uhr