Wartezeiten in der Psychotherapie - "Nur zwei von ungefähr 60 Therapeuten haben sich zurückgemeldet"

Die Wartezeiten für einen Platz in der Psychotherapie liegen bei mehreren Monaten. Was macht die lange Suche und das Warten mit denjenigen, die dringend Hilfe suchen? Drei Betroffene erzählen. Von Wanda Bleckmann und Haluka Maier-Borst
Lea: Man denkt immer, man stirbt. Auch wenn ich weiß, ich werde jetzt nicht sterben, fühlen sich meine Panikattacken genau so an. Im Körper werden die gleichen Hormone wie in einer lebensbedrohlichen Situation ausgeschüttet.
Boris: Ich bin eigentlich kein Mensch, der von sich aus sagt, ich habe ein Problem. Irgendwann habe ich aber gemerkt, hier stimmt was nicht. Ich kann nicht mehr schlafen, ich bin tagsüber nicht richtig wach. Ich kann kaum noch arbeiten und mich konzentrieren. Ich bin dann zum Arzt, der eine Depression diagnostiziert hat, so dass ich mehrere Wochen bei der Arbeit ausgefallen bin.
Etwa eine von drei Personen in Deutschland leidet laut Schätzungen des Robert-Koch-Instituts (RKI) an einer psychischen Störung. Nicht einmal die Hälfte der Betroffenen hat aber je professionelle Hilfe in Anspruch genommen [aerzteblatt.de]. Es ist schwer, Therapeuten zu finden, die überhaupt einen freien Platz haben - und zu einem passen.
Userinnen und User haben rbb|24 geschildert, was diese Suche mit ihnen gemacht hat. In den Gesprächen wurde ihnen Anonymität zugesichert, weswegen alle hier verwendeten Namen verfremdet sind. Hier sind ihre Geschichten.
Lea: Das erste Mal sind die Panikattacken ein Jahr vor meinem Abitur aufgetreten, das war 2013. Ich bin sofort in Therapie, weil es sehr akut und schlimm war. Ich konnte vier Monate lang nicht das Haus verlassen. Nach der Behandlung dachte ich, dass ich geheilt bin. Erst durch den Druck im Studium und durch die Pandemie habe ich gemerkt, dass ich das aber überhaupt nicht in den Griff bekommen hatte.
Danielle: Ich habe leider schon immer Panikattacken. Wenn das ein bis zwei Mal im Monat passiert, dann ist es okay. Aber wenn es jeden Tag mehrmals passiert, dann hält man das nicht mehr aus. Krasses Herzrasen, Luftnot, Kreislauf oder der Gedanke, ich falle gleich tot um. Da habe ich mir gesagt, dass ich was machen muss.
Lea: In der Zeit, in der ich wirklich nicht arbeiten konnte, also das komplette erste Jahr der Pandemie, hat mein Vater mich finanziell unterstützt. Das war mein großes Privileg.
Die Anzahl an Tagen, die Arbeitnehmer in Deutschland aufgrund einer psychischen Erkrankung von der Arbeit fernbleiben, steigt seit Jahren. Im vergangenen Jahr verzeichnete die Krankenkasse DAK-Gesundheit 276 Fehltage pro 100 Versicherte, das ist ein neuer Höchststand. 2018 waren es noch 40 Tage weniger. 1997 waren es rund 77.
In Berlin und Brandenburg fielen Beschäftigte 2021 dabei öfter aus als im Bundesdurchschnitt. Der Durchschnitt für Berlin lag bei 303 Fehltagen und 314 in Brandenburg.
Danielle: Ich habe dann eine sogenannte Sprechstunde bei einer Therapeutin in Anspruch genommen. Mit der Dame habe ich mich super verstanden, aber sie hatte keinen Therapieplatz frei. Ich musste mir nach der Sprechstunde mit der Diagnose also jemand anderes suchen. Die Kassenärtzliche Vereinigung bietet eine Suchfunktion für Therapeuten auf ihrer Website an. Dort habe ich mir wirklich alle Therapeuten für meine Therapierichtung rausgesucht.
Meine einzige Einschränkung: Ich habe mir rund um meinen Wohnort einen Radius gezogen, um zu schauen, wo ich es schaffen kann, regelmäßig hinzukommen. Alle innerhalb des Radius habe ich dann abtelefoniert - und am Ende haben sich, glaube ich, zwei von ungefähr 60 Therapeuten zurückgemeldet.
Lea: Ich hatte eigentlich keinen speziellen Suchradius, weil ich weiß, wie wenig Therapieplätze es gibt. Ich habe nicht außerhalb Berlins gesucht, aber verschiedene Bezirke in Berlin abgeklappert.
Es gibt eine begrenzte Anzahl an Kassenzulassungen für Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen. Wie viele Stellen das genau sind, variiert nach Planungsbereichen. Generell finden sich aber mehr Therapeutenstellen in städtischen als in ländlichen Gebieten. In Berlin kommen durchschnittlich 56 Vollzeitstellen auf 100.000 Einwohner, in Charlottenburg-Wilmersdorf sind es 109. In Brandenburg liegt der Höchststand in Potsdam mit 45 Therapeuten und Therapeutinnen auf 100.000 Bewohner. In Spree-Neiße sind es nur rund 17 .
Lea: Der Pandemiezustand hat meinen Zustand verschlimmert. Auch ich musste mich erst überwinden, mich auf die Suche zu machen. Denn mir war von vornherein total klar, dass ich nicht sofort jemanden finden werde. Ich habe es oft auch gar nicht geschafft, am Telefon zu den Therapeuten durchzukommen. Wenn man dann doch mal durchgekommen ist, dann hat man gemerkt, dass die super gestresst sind und gar keine Zeit haben.
Die Nachfrage nach einer psychotherapeutischen Behandlung ist durch die Corona-Pandemie offenbar gestiegen. In einer Online-Umfrage der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung gaben Mitglieder im Durchschnitt an, dass sie vor der Pandemie, im Januar 2020, wöchentlich 4,9 Anfragen erhielten. Ein Jahr später waren es 6,9 – eine Zunahme von 40,8 Prozent. Von diesen anfragenden Patienten und Patientinnen bekommt etwa ein Viertel einen Termin für ein Erstgespräch. Das heißt aber nicht, dass sie dort dann auch einen Therapieplatz bekommen.
Lea: Zu hören, wir haben keinen freien Platz oder wir können Sie nur auf die Warteliste setzen, ist auf jeden Fall frustrierend. Aber es war teilweise auch so, dass mein Behandlungsbedarf infrage gestellt wurde. Natürlich muss man jemanden mit einer akuten Psychose oder Depression zuerst behandeln. Aber trotzdem möchte ich nicht, dass meine Erkrankung weniger ernst genommen wird. Wenn ich zum Arzt gehe, weil ich mir den Knöchel verstaucht habe, sagt der mir ja auch nicht: ‘Der ist aber nicht gebrochen.’
Danielle: Hartnäckig sein und den Aufwand nicht scheuen. Das war bei mir wichtig. Aber wenn man dazu nicht in der Lage ist, dann fällt man ganz schnell hinten runter. Leute, die so richtig depressiv und antriebslos sind, die schaffen das nicht. Für die muss es eine andere Option geben. Für die ist es ja schon schwer, auf einen Anrufbeantworter zu sprechen, geschweige denn 60 bis 70 Anrufe am Tag zu machen.
Boris: Wenn man Praxen per E-Mail anschreibt, kommen ja nicht innerhalb von 15 Minuten Antworten. Jeden Tag die E-Mails zu checken und immer wieder enttäuscht zu werden, weil keine Antwort kommt oder es keinen Platz gibt... das muss ich nicht haben.
Lea: Der erste Therapeut, den ich gefunden habe, war ein psychiatrischer Arzt. Ein älterer Mann, und der hat seltsame Sachen gelobt an mir. Er hat mehrfach gesagt, wir sind in einer Pandemie, die gesunde Reaktion sei, eine Angststörung zu entwickeln und dass er da keinen Therapiebedarf sieht. Aber wenn ich möchte, könne er mir starken Beruhigungsmittel verschreiben. Das war so ein väterliches Auf-den-Kopf-Tätscheln, das passte gar nicht. Bei meiner jetzigen Therapeutin ist es komplett anders. Ich habe sofort gemerkt, das passt perfekt.
Wie viele Betroffene am Ende mit der Suche ganz aufhören, weil sie niemanden finden, das weiß man nicht genau. Man weiß eben nur, dass wohl über die Hälfte aller Menschen mit Bedarf nie professionelle Hilfe bekommt. Sei es, weil sie nie danach gesucht haben. Oder weil sie während der Suche entmutigt wurden. Um jemanden zu finden, braucht es oft Glück. Und mitunter auch viel Bereitschaft für Kompromisse.
Lea: Anderthalb Jahre habe ich gesucht, und ich kenne Leute, die noch viel, viel länger gesucht haben. Ich würde nicht sagen, dass ich Pech gehabt habe. Ich bin eher die, die Glück gehabt hat. Ich habe jetzt eine Therapeutin, die zu mir passt. Aber ja, ich muss für jede Sitzung jetzt doch von Pankow nach Bernau rausfahren.
Boris: Ich habe bis jetzt keinen Therapeuten gefunden. Ich wollte die Suche demnächst wieder anfangen. Aber gerade war es mit der Arbeit ein bisschen stressig und ja, mir geht es auch wieder besser. Jetzt kommt die Sonne wieder raus und im Endeffekt sucht man sich irgendwie so seine Wege. Ich versuche, mich selbst ein bisschen zu behandeln, soziale Sachen zu machen, die mir Freude machen, die nicht so auf die Psyche gehen und mich nicht irgendwie runterziehen.
Danielle: Ich sage es mal ganz lapidar, meine Therapeutin ist so eher der Typ ältere Mutti. Es ist okay, ich habe sie seit einem Jahr. Aber ich habe schon das Gefühl, es würde andere Therapeuten geben, wo es besser passt. Aber wenn ich jetzt diesen Platz sausen lasse, wie lange soll ich denn dann warten? Gerade in dieser ersten Situation, wo es mir wirklich schlecht ging, habe ich gedacht, ich muss das einfach angehen. Ich kann da nicht noch vier Monate ins Land ziehen lassen.
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