Erfahrungsbericht zu Pfingsten - Das Neun-Euro-Ticket kostet Stehvermögen

Wer am Pfingstwochenende mit der Bahn unterwegs war, muss sich auf eine anstrengende Reise einstellen. Julian von Bülow hat sich mit dem RE5 auf den Weg von Berlin nach Waren an der Müritz gemacht. Ein Erfahrungsbericht.
Nachdem am Freitag schon Züge wegen Überfüllung angehalten wurden, steht am Pfingstwochenende nun meine erste große Fahrt mit dem Neun-Euro-Ticket an - vom Berliner Hauptbahnhof nach Waren an der Müritz in Mecklenburg-Vorpommern.
Meine Erwartung: Knapp zwei Stunden mit FFP2-Maske stehen, eine ausgefallene Klimaanlage und schwitzende Massen im Regionalexpress, die mich dem Erstickungstod näher bringen als der Zug mich an die Müritz. Ob ich überhaupt ankomme?
Glückseligkeit in der S-Bahn
Der Tag beginnt mit der S7 von Potsdam-Griebnitzsee zum Berliner Hauptbahnhof. Die Bahn ist angenehm leer, aber während der Fahrt überholt uns ein RE1 nach Frankfurt (Oder), in dem die Leute schon stehen. Die Szene wiederholt sich am Zoo mit dem RE7 nach Dessau.
In der S-Bahn herrscht hingegen Glückseligkeit: Beim Ausstieg am Hauptbahnhof ruft eine ältere Frau einem jungen Mann zu: "Schön Sie kennengelernt zu haben, Sie sind die Kirsche auf der Sahnetorte!" Ich hingegen stehe eine Viertelstunde später im dichten Menschengedränge neben einem glupschäugigen Mops, von dem ich nicht weiß, ob er mich anknurrt oder gerade erstickt. Es ist 10:12 Uhr, der RE5 nach Neustrelitz/Rostock fährt pünktlich ab und mit ihm lauter Touris mit Koffern, junge Familien, Senior:innen und Punks – die Berliner Mischung eben.
Ab Hauptbahnhof keine Sitzplätze mehr
Die Leute sitzen bereits im Gang, da drängt am Gesundbrunnen schon die nächste Menschentraube in den Regio. Aus den Lautsprechern tönt die Aufforderung, Gepäck von den Sitzen zu nehmen. Ein schlechter Witz, denn hier war schon vorher kein Platz mehr frei. Aber immerhin: Das von der Deutschen Bahn versprochene zusätzliche Personal sorgt an den Zugtüren dafür, dass sich die Menschen Tetris-mäßig in die verbleibenden Lücken quetschen.
Nach zehnminütigem Halt frage ich mich, ob die Zugfahrt für alle besser wäre, wenn nicht jede Redaktion in Deutschland ihre Reporter:innen ins Neun-Euro-Getümmel schicken würde. Aber dann würden die Upper Class im ICE gar nicht erfahren, was ihnen gerade entgeht. Etwa der rosa Kinderwagen im Gang, der allerdings keine Kinder transportiert, sondern eine Hundemama mit ihren zwei spielenden Welpen.
Nicht weit davon entfernt steht Olga aus Berlin. Sie ist Russin, um die dreißig, und mit Mann, Kind und Hund mit dem Neun-Euro-Ticket unterwegs nach Oranienburg. Sie habe schon Tage ohne Neun-Euro-Ticket erlebt, an denen sei es genauso voll gewesen, erzählt Olga. Sie freut sich, bald ihren Führerschein zu haben, dann seien Reisen mit Kind und Kinderwagen endlich leichter. Während des Gesprächs kläfft mich der glupschäugige Mops Stepan an – Olga sagt, er glaube, ich sei eine Bedrohung für seine Herrin. Ok, Stepan! Dann geh ich eben zu den Welpen.
Immerhin für die Toilette nicht so lange anstehen
Bei den jungen Hunden sitzen drei rosa gekleidete Frauen auf dem Weg nach Warnemünde. Sie machen den Trip sonst jedes Jahr per Bahn und Auto. Aber dieses Jahr nur mit dem günstigen Bahnticket. Sie mussten dabei allerdings einen späteren Zug nehmen als geplant – der vorherige war voll.
In Oranienburg steigen mit Olga, Kind und Kegel einige Leute aus, aber freie Sitzplätze sind immer noch Fehlanzeige. Genauso dauerbesetzt ist der Sitzplatz mit Spülung, wo es sich überraschenderweise kaum staut.
Eine ältere Dame im T-Shirt erklärt einer anderen in Regenjacke auf Englisch die Vorzüge des Zwiebelprinzips mit Klamotten (man hat sie nicht als Gepäck). Ein Vater raunt dem nächsten mit einem Lächeln am Kinderwagen "Ist scheiße, wa?" zu und kündigt an, das nächste Mal lieber nachts zu fahren. Daneben hüpft ein Mann über einen Koffer Richtung Toilette, "Wie 'ne Gazelle", ruft jemand und eine Frau ergänzt genervt: "Wie betrunken!" Kurz danach weht eine Kräuterlikör-Fahne durch den Gang. Auf dem Rückweg bewegt sich der Mann nicht mehr ganz so galant: "Den Arsch ins Gesicht hauen muss man aber nicht!", ruft die Frau.
Deutlich rücksichtsvoller kämpft sich die Zugbegleiterin durch die Gänge. "Wie ist denn ihr Tag bisher?", frage ich. "Naja, sehen 'se doch" und zeigt auf die vollen Plätze, zuckt kopfschüttelnd mit den Schultern und und weg ist sie. Später sehe ich, dass sie sich am Zugende hinter einer Tür zurückziehen kann. Kann sie bestimmt gebrauchen, denn bis Neustrelitz gibt es nur zwei Zugbegleiter:innen, danach ist sie allein für das Wohl aller Fahrgäste zuständig.
Etwas entspannter wirken ein Vater und dessen Tochter mit Malblock und Sitzplatz. Sie sind unterwegs nach Hamburg. Er wollte im ICE fahren, aber sie beharrte auf den Regionalexpress. Die Reise sei für ihn wie erwartet, für neun Euro und mit nicht allzu nervigen Leuten könne man das mal machen.
Ich mache mich auf in den anderen Teil des Wagens, da bemerke ich einen Mann, auf dessen T-Shirt "Feel the Heat" steht. Da fällt mir auf: Die Klimaanlage tut ihren Job. Zwar wollten Leute dennoch das Fenster öffnen (ging nicht), aber ohne Kühlung sähe es hier drinnen deutlich anders aus.

Das Ziel muss die Reise wert sein
Draußen spiegelt sich in einem See der blaue Himmel. Alles andere als Sonnenschein wäre angesichts dieser Fahrt auch gemein. 90 der 105 Fahrminuten durfte ich stehen, ehe der Zug pünktlich um 11:57 Uhr in Waren ankommt. Nach einer Pizza Funghi in der Innenstadt und einem Eis an der Müritz ist das aber auch schon wieder vergessen. So tiefenentspannt verpasse ich dann meinen Zug zurück nach Berlin.
Der nächste Regio fährt erst mehr als eineinhalb Stunden später. Zeit für ein vorläufiges Fazit: Wenn am Ziel die Sonne scheint, man dort entspannen und davor auch mal zwei Stunden stehen kann, lohnt sich die strapaziöse Reise. Mit Kindern, Kinderwägen und Fahrrädern steigt das Stresslevel nochmal an. Wer mit mehr Komfort an Wochenenden zu touristischen Orten möchte, bucht sich dann doch lieber ein ICE-Ticket oder steigt ins Auto. Aber vielleicht sorgt genau diese Entscheidung dann auch wieder für leerere Züge.
Bei der Rückfahrt nach Berlin um 15:30 Uhr gab es dann jedenfalls genügend Sitzplätze, die DB erlaubt sich gar eine erste Klasse. Die schien es auf der Hinfahrt nicht gegeben zu haben, aber das ist nur die halbe Wahrheit: Ein Junge döste im Kinderwagen. Und ohne Aufpreis seinen eigenen Sitz mitgebracht zu bekommen und von den Eltern am Platz bedient zu werden – das ist auch abseits der Neun-Euro-Ticket-Saison auf jeden Fall erstklassig.
Sendung: rbb24 Abendschau, 05.06.2022, 19:30 Uhr