10. Jahrestag der Besetzung "Stille Straße 10" - Die alten Unbeugsamen

Hausbesetzungen gehören zum Berliner Alltag. Aber das, was vor zehn Jahren in Pankow passierte, ließ aufhorchen: Alte Leute, weit über 70 Jahre, hatten ihren Seniorentreff besetzt, um gegen die Schließung zu protestieren. Von Thomas Rautenberg
Margret, Ingrid, Birgit und Peter sitzen an einen runden Tisch im Seniorentreff "Stille Straße 10". Gemeinsam bringen die vier 327 Lebensjahre auf die Waage. Und eine ganz wichtige Erfahrung: Vor zehn Jahren sind sie gemeinsam zu Hausbesetzern geworden. Aus purer Not, denn der Stadtbezirk Pankow wollte ihren Freizeittreffpunkt schließen und sie hatten nicht vor, freiwillig zu gehen.
Also haben sie das Haus besetzt und in Schlafsäcken auf dem Boden übernachtet. Und das in unserem Alter, erinnern sich Margret Pollak. "Morgens bin ich kaum von meiner Matratze hochgekommen. Jede Nacht auf einer Campingliege schlafen, das ist nichts mehr in meinem Alter!"
Aus ein paar Tagen wurden Monate
Die Senioren gingen davon aus, dass ihre Hausbesetzung nur ein, zwei Wochen dauern würde. Am Ende aber zog sich der Protest über 112 Tage und Nächte hin. Aus ganz Deutschland, sogar aus Japan und den USA kamen die Fernsehteams, um über die Aktion der Alt-Revoluzzer zu berichten. Und aus der direkten Nachbarschaft ließen sich immer mehr Unterstützer blicken.
Auch junge Leute kamen. Viele von ihnen in schwarzen Sachen und Springerstiefeln. Sie saßen im Garten und haben mit uns diskutiert, erinnert sich Margret Pollak. "Die waren tätowiert und früher auf der Straße hätte ich sie wohl schief angeguckt. Heute weiß ich, dass sie anders sind und insofern habe auch ich durch unseren Protest dazu gelernt." Die alten Leute wollten keine Auseinandersetzung mit der Polizei. Sie wollten, dass die Besetzung ihres Hauses friedlich verläuft und das haben alle beteiligten Seiten akzeptiert.
Politik überfordert
Völlig überrascht war die Berliner Politik. Dass alte Menschen nicht gehen, wenn man es ihnen sagt, sondern einfach ein Haus besetzen - wann hat es das schon mal gegeben? Die Suche nach einem Kompromiss begann, denn den Protest der Alten wollten die Verantwortlichen im Stadtbezirk Pankow so schnell wie möglich vom Tisch bekommen. Der geplante Verkauf des begehrten Grundstücks in der Stillen Straße an den Meistbietenden wurde aufgeschoben. Stattdessen sollte jetzt die Volkssolidarität den Seniorenfreizeittreff übernehmen.
Der Vertrag war noch gar nicht ganz unterschrieben, da flatterte schon den nächsten Brief des Stadtbezirks ins Haus, der alle Vereinbarungen wieder in Frage stellte: Der behindertengerechte Umbau der Toiletten, ein zweiter Fluchtweg und ein neuer Brandschutz wurden gefordert - Kostenpunkt rund 2 Millionen Euro. Doch keiner investiere in ein Haus, wenn der Nutzungsvertrag am Jahresende gekündigt werden kann, sagt Brigitte Klotsche. Seit zehn Jahren das gleiche Spiel, die gleiche Unsicherheit, dass am Jahresende Schluss sein könnte, klagt die 81-Jährige. Das stumpfe ab und am Ende sei es egal, Hauptsache, es gehe weiter, setzt sie hinzu.
Mehr Sicherheit wäre möglich
Bislang ist es auch immer weitergegangen. Für die Zukunft aber fordert Eveline Lämmer, Vereinsvorstandsmitglied in der "Stillen Straße" und Vorsitzende des Landeseniorenbeirates, eine grundsätzliche Lösung für Altersfreizeiteinrichtungen in den Berliner Bezirken. Das Altershilfestrukturgesetz, so Lämmer, müsse dafür geändert werden. "Das bedeutet, dass die Mittel für die Altenhilfe in den Bezirken künftig als gesetzliche Pflichtaufgaben finanziert werden müssen. Die Ausgaben für Altershilfe-Einrichtungen müssen also zu einer gesetzlichen Pflichtaufgabe werden. Bislang zählen sie nur zu den freiwilligen Ausgaben". Der Landesseniorenbeirat diskutiert deinen Vorschlag bereits mit den Fraktionen im Abgeordnetenhaus und hofft auf eine Entscheidung in dieser Legislaturperiode.
Alt aber nicht müde
Für die ehemalige Hausbesetzer ist klar, dass sie ihren Freizeittreff niemals freiwillig aufgeben werden. Wir sind zäh, das müssten die politisch Verantwortlichen inzwischen wissen, sagt Peter Klotsche. "Wenn uns hier wieder einer rausschmeißen will, dann gehen wir nicht. So einfach ist das. Punkt."
Sendung: Inforadio, 28.06.2022, 12:00 Uhr