Einsatzlage bei Berliner Feuerwehr immer dramatischer - Wenn der Ausnahmezustand keine Ausnahme mehr ist

Mo 27.06.22 | 18:47 Uhr
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Rettungswagen der Berliner Feuerwehr auf Einsatzfahrt am 28.03.2022. (Quelle: imago images/Frank Sorge)
Bild: imago images/Frank Sorge

Eine schlimme Nacht liegt hinter den Einsatzkräften der Berliner Feuerwehr: Am Samstag herrschte ganze 16 Stunden lang der "Ausnahmezustand" - der scheint inzwischen aber eher "Normalzustand" zu sein. Kann eine Analyse der Nacht in Zukunft helfen?

Nachdem die Berliner Feuerwehr in der Nacht von Samstag auf Sonntag 16 Stunden lang im Ausnahmezustand war, soll es nun eine interne Auswertung geben. Das sagte ein Sprecher der Feuerwehr am Montag auf Anfrage von rbb|24. Am Montag fanden erste Krisensitzungen statt. Wann es ein Ergebnis gebe, sei aber noch offen.

Jedes Jahr mehr Ausnahmezustände

Die Entwicklung der vergangenen Jahre zeigt: Die Situation wird immer angespannter. 2020 wurde der Ausnahmezustand noch 64 Mal ausgerufen, 2021 verdreifachte sich dann die Zahl auf 178. Jetzt sieht es danach auch, als ob dieser Rekord bereits zur Hälfte des Jahres gebrochen wird.

Ein Ausnahmezustand wird dann ausgerufen, wenn die Rettungswagen zu 80 Prozent ausgelastet sind und die vorgegebene Eintreffzeit von zehn Minuten bei den Patientinnen und Patienten kaum noch eingehalten werden kann. Schon in den Tagen vor Samstag war der Rettungsdienst mehrmals über mehrere Stunden im Ausnahmezustand. "Was wirklich neu ist, dass wir nach einem Notruf gar keine Fahrzeuge dorthin schicken konnten, beziehungsweise nur zeitversetzt.", sagt Feuerwehrsprecher Thomas Kirstein zu rbb|24 über den vergangenen Samstag.

Warum ist die Lage so angespannt?

Für die derzeitige Situation im Rettungsdienst sieht Kirstein mehrere Gründe. Ganz akut seien die hohen Temperaturen ein Problem. "Das macht vielen alten Menschen mit Vorerkrankungen zu schaffen." Außerdem seien wieder mehr Touristen in der Stadt, es gebe viele Veranstaltungen, dazu käme die Partyszene: "Es sind einfach viele Menschen in der Stadt unterwegs."

Die Einsätze sind deshalb so häufig wie noch nie, "1.678 Einsätze innerhalb von 24 Stunden. Das muss erst mal bewältigt werden."

Aber wie viele davon sind wirklich nötig? Während die Gewerkschaft der Polizei zuletzt noch die "fehlende Selbsthilfefähigkeit in der Bevölkerung" als Grund genannt hatte [morgepost.de, bezahlter Inhalt] will Kirstein hier auf keinen Fall intervenieren. "Wir dürfen halt niemanden verlieren."

Statistiken über die Sinnhaftigkeit von den Einsätzen gibt es kaum. Bei 20 bis 25 Prozent werden die Patientinnen und Patienten zumindest nicht ins Krankenhaus gefahren. Bei gut vier Prozent der Einsätze finden die Sanitäterinnen und Sanitäter gar niemanden mehr am Einsatzort vor.

Personalmangel als permanentes Problem

Ein weiteres großes Problem: Ressourcen-, vor allem aber Personalmangel. 107 Funktionen seien am Samstag laut Kirstein nicht besetzt gewesen. 2018 wurde die Arbeitszeit der Feuerwehrfrauen und -männer nach einem großen Protest um vier Stunden verkürzt. "Wir rennen immer noch den dadurch 300 fehlenden Leuten hinterher. Dazu kommt der generelle Mehrbedarf plus die Altersabgänge, die jetzt noch kommen." In den nächsten sieben Jahren geht laut Kirstein fast ein Viertel des Personals in den Ruhestand.

Obwohl bereits Löschfahrzeuge und deren Besatzung als Rettungsdienst losgeschickt worden sind, müsse man genau hier ansetzen, so Kirstein. "Wir müssen die Rettungswagen einfach besser besetzten." Das sei nach wie vor eine der "Hauptstellschrauben", die auch in der Analyse noch mal genau angeschaut werden sollen. Dienstpläne entsprechend zu gestalten sei bei der hohen Belastung der Einsatzkräfte aber keine einfache Aufgabe.

"Wir werden bald auch noch zusätzliche Rettungswagen von Hilfsorganisationen in den Dienst nehmen können.", so Kirstein weiter. So habe man Wagen und Personal aufgestockt.

Eine bessere Vernetzung

"Wir haben richtige Frequent-User, die im Jahr bis zu 300 Mal bei uns anrufen. Im Rahmen des vorbeugenden Rettungsdienst versuchen wir dann mit dem Hausarzt, der Krankenkasse, der sozialpsychatrischer Dienst und den Angehörigen in Kontakt zu treten.", so Kirstein. Man müsse den Menschen helfen, aber gleichzeitig verhindern, "dass sie ständig den Notruf wählen."

Auch innerhalb der Einsätze sei eine bestmögliche Vernetzung sinnvoll. Am vergangenen Wochenende habe man bereits über 100 Einsätze an die Kassenärztliche Vereinigung abgegeben, was Rekord sei.

"Ist der Ausnahmezustand überhaupt noch Ausnahmezustand?"

Lars Wieg, Vorsitzender der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft (DFeuG) fordert im rbb24-Inforadio die Berliner Politik auf, mehr zu tun. Denn neben der Häufigkeit der Ausnahmezustände sieht Wieg auch die Dauer des letzten Zustandes als Indikator für eine neue Dimension: "Dass wir einen Ausnahmezustand über 16 Stunden hatten, da ist dann schon die Frage: Ist das noch ein Ausnahmezustand?"

"Wir fordern einen runden Tisch mit allen Beteiligten. Sich hinzusetzen und noch mal Lösungsvorschläge zu erarbeiten." Eine laufende Taskforce mit der Innenverwaltung "hat aus unserer Sicht abschließend nicht die Ergebnisse geliefert, wie wir es gerne gehabt hätten." Konkret fordert Wieg eine Änderung des Rettungsdienstgesetzes, sodass manche Einsätze nicht mehr in den Bereich der Feuerwehr fallen. Außerdem seien schon seit 2020 weitere 20 Rettungsfahrzeuge angefragt, die Innenverwaltung habe bisher nicht geantwortet.

Thomas Kirstein bestätigt die angefragten Fahrzeuge, bewertet die Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung aber positiv.

CDU kritisiert Senatsverwaltung

Auch die Berliner CDU sieht den ständigen Ausnahmezustand Feuerwehr als ein Alarmsignal. "Er dokumentiert den systematischen Missstand bei den Rettungsdiensten", so Kai Wegner, CDU-Fraktionsvorsitzender. Man habe in der Haushaltsberatung bereits zwölf zusätzliche Rettungswagen und eine Sanitätsmotorradstaffel vorgeschlagen. Der Senat habe das abgelehnt.

Sendung: rbb24 Inforadio, 27.06.2021, 14:15 Uhr

26 Kommentare

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  1. 26.

    Es werden spätere Schritte zur Entlastung im Einsatzdienst vor den aktuellen angeordnet.
    Es sollten die Brandbekämpfumg und die technische Hilfeleistung und der Rettungsdienst mal ehrlich ins Verhältnis gesetzt werden. Es haben viele Feuerleute genug Bereitschaftszeiten. Reine Brandbekämpfung und technische Hilfeleistung brauchen einen Bruchteil an Einsatzbeamten. Unser Hauptgeschäft ist der Rettungsdienst. Blaue umd weiße Säule getrennt sind notwendig. Tip an die Politik.

  2. 25.

    @Tosca, und wenn die älteren morgens oder abends einkaufen gehören Sie zu den ersten die dann meckern, weil ja dann die Berufstätigen gehen.

  3. 24.

    @A.D.

    Nicht besetzte Rettungswagen gibt es bei Feuerwehr und Hilfsorganisationen. Naaj bald werden die Auszubilden bei den Hiorg. fertig sein. Um dauerhaft die Fahrzeuge besser besetzen zu Können, sollten die Hiorg. ihre Ausbildungskapazitäten aufstocken. Am besten alle Hiorg. würden eine Rettungsschule gemeinsam betreiben.

    Generell fände ich es besser, wenn man peu a peu Teile vom RD den Hiorg. zu übertragen. Dann hätte die Feuerwehr mehr Personal für ihre eigentliche Aufgabe den Brandschutz frei.

  4. 23.

    Es müssen bei Feuerwehr, Polizei, Justiz und Justizvollzug sehr schnell viele neue Stelle geschaffen werden. Jahrzehntelang wurde alles kaputt gespart.

    Dann müssen die Bezirke und der Senat halt alle freiwilligen Aufgaben komplett einstellen. Somit könnte man die Mittel teilweise gegenfinanzieren.

    Ich denke, dass Feuerwehr, Polizei, Justiz und Justizvollzug wichtiger sind als die freiwilligen Ausgaben und Aufgaben

  5. 22.

    Das Problem scheint mir das Staatshaftungsgesetz zu sein: Eingeführt aus wohlverstandenen Gründen, dass der Staat für Pfusch am Bau und Fehlkonstruktionen zu Lasten anderer gradestehen muss, mittlerweile zum Einfallstor für jegliche Ansprüche und Erwartungen verkommen.

    Wird irgendwo NICHT hingefahren und es ist doch etwas, kommen die aus den Klagen gegen sie nicht mehr raus. Das ist den Anrufenden eben nicht anzusehen. Selbst bei den Wetterberichten ist das mittlerweile so: Lieber vor allem Möglichen warnen und im Sommer eiskalte Winde und Hagelscheuer ankündigen, als dass auch nur ein Einziger von einem einzigen Hagelkorn, wandernd in großer Höhe, getroffen wird.



  6. 21.

    Das erlebe ich im Dienst, aber ist nicht die Ursache des aktuellen Problems. Es ist ein Nebenkriegsschauplatz, der gerne als Nebelkerze hingehalten wird.
    Wie gesagt das Problem liegt in den Vorgaben des ärztlichen Leiters und seinem Rettungsdienst Gesetz.

  7. 20.

    "Doktor, Doktor hilf mir" hat die Gruppe Geier Sturzflug es bereits vor gut vier Jz. auf den Punkt gebracht und analog, wie viele Menschen fast täglich beim Arzt sitzen, betätigen andere den Notruf. Zudem auch ist Vieles, was vorher noch für anderes da war, aus Kostengründen unbesetzt. Bahnhöfe zum Beispiel.

    Die Folge: Einsätze der angeforderten und angerückten Feuerwehr beeinträchtigen in nicht mehr vertretbarem Maße die Fahrpläne von U- und S-Bahnen.

    Die Stärkung der Selbsthilfefähigkeit ist ein Teil der Lösung, eine höhere personelle Besetzung von Orten, bei denen die dort Diensttuenden Erste-Hilfe-Aufgaben übernehmen, ist der andere Teil der Lösung. Ansonsten sähe ich nur einen schwindelerregenden Kreislauf, der kein Ende findet.

  8. 19.

    Leute die 300 X im Jahr die Feuerwehr anrufen !!! Das sollte halt Konsequenzen haben. Auch finanzielle. Dem ist aber nicht so. Deshalb wirds auch immer weiter gemacht. Ebenso wenn Kinder aus Spaß den Notrufknopf drücken. Null Folgen für die Eltern.

  9. 18.

    Sehr guter Kommentar. Gleiches gilt für Rettungsstellen in den Krankenhäusern. Da sitzt dann am Samstag Vormittag jemand, der schon seit 1 Woche Rücken hat. Die Menschen haben verlernt, kleine Notfälle selbst zu versorgen. Schnell mal telefonieren ist halt einfacher.

  10. 17.

    Letztlich sind wir daran aber nicht ganz unschuldig. Bloß nicht mehr Steuern zahlen. bloß keine Reform der Krankenkassen.

    Wir wollen einen super Versorgung. die aber nichts kosten soll....

    Fehler werden auf allen Seiten gemacht. Nicht nur auf Seiten des Managements

  11. 16.

    Beim Praktikum geht es also schon los und beim Bewerbungsverfahren weiter. Physische und psychologische Tests sind ja noch nachvollziehbar, aber Präsentation der eigenen Person mit einschlägiger Software... Muss das wirklich sein? Macht das eine/n Sanitäter/in/Feuerwehrmann/Frau aus, dass er/sie sich präsentieren kann?
    Die Hürden scheinen hoch... Und nun möge sich nochmal jemand über fehlenden Nachwuchs beschweren.

  12. 15.

    Sehe ich genauso, normalerweise müsste man so ein Fehlverhalten sogar bestrafen.
    Sprich wer unnötig den Notdienst belästigt, sollte mindestens 50 Sozialstunden leisten müssen !

  13. 14.

    Da gebe ich Ihnen völlig Recht.
    Anstatt eine Paracetamol zu nehmen wird die 112 gerufen.
    Für Bagatelleinsätze müssten die Leute selber zahlen.
    Die Menschen sind zu verwöhnt.
    Aber ich sehe es immer wieder bei den warmen Wetter müssen unbedingt die Älteren einkaufen gehen möglichst um die Mittagszeit und dann passiert es das der Kreislauf schlapp macht da braucht man nicht gleich die Feuerwehr holen, Glas Wasser reich oder einfach mal zu Hause bleiben.
    Aber Frau Giffey hat andere Sachen zu tun nähmlich mit Herrn Klitschkow zu telefonieren anstatt sich um die Belange der Feuerwehr zu kümmern.

  14. 13.

    Diese Situation gibt es leider nicht nur in Berlin…das ist mittlerweile in fast allen Städten und Gebieten!!! Berlin wird nur richtig gut verkauft.

  15. 12.

    Liebe Leute,
    Jeder kann sich selber an die Nase fassen. Muss ich wirklich beim kleinsten Problem die 112 rufen. Warum kann ich nicht mehr mit gesundem Menschenverstand entscheiden, selber zum Arzt/Klinik zu fahren. Wieso muss ich die 112 rufen, wenn ein Betrunkener im ubahnhof liegt und frage ihn nicht mal kurz selber, ob er Hilfe braucht. Kleine schürfwunde, umgeknickt, kurz umgefallen, weil ich ne halbe Stunde in der Sonne angestanden habe. Kind hat Fieber, mir ist übel. Ich hab seit drei Tagen Kopfschmerzen. Warum kann der gemeine Berliner das nicht selber behandeln.

    Werdet endlich erwachsen und tragt für euch selbst mal Verantwortung. Niemand kommt schneller in der rettungsstelle dran, nur weil der 18 jährige mit Fieber und Halsschmerzen nicht selbständig sondern mit dem rtw vorgefahren wird.

    Lasst endlich mal Vernunft walten und den Rettungskräften somit Gelegenheit, sich um die richtigen Notfälle zu kümmern.
    Weniger Egoismus und mehr Eigenverantwortung.

  16. 11.

    Tja, da stellt der Chef der Berliner Feuerwehr vor ein paar Tagen auf einer Messe eine Strategie 2030 vor.
    Aber die Probleme 2022 bekommt er nicht geregelt...

  17. 10.

    >"es gibt kaum noch Möglichkeiten einem Anrufer zu sagen, dass die Berliner Feuerwehr dafür nicht zu ständig ist."
    1. weil viele dieser Anrufer nicht unserer Amtssprache mächtig sind
    2. weil die allermeisten solcher Anrufe aus einem Milieu kommen, in dem allumfassende Hilfe für alles gewohnt ist.
    Wirklich, ist so. Das hab ich so mal wortwörtlich aus dem Bekanntenkreis... einem ganz normaler Rettungswagenfahrer.
    Blöd ist ja immer nur, wenn eben diese Anrufer unverständlich irgend einen Notfall melden. Kann ja was wirklich ernstes sein, in der eine Person halb hilflos irgendwo liegt. Dann muss die Rettungswache reagieren. Und dann stellt sich heraus vor Ort, dass dies nur ein angeknackster Zeh oder ein abgebrochener Fingernagel ist. Mein Respeckt für die Rettungsleute. Das erfordert schon sehr viel innere Ruhe...

  18. 9.

    Es ist eine Schande! In allen Lebensbereichen alles nur noch auf Kante! Privatisierungen, Personaleinsparungen... Eine Schande!

  19. 8.

    Nicht nur bei der Berliner Feuerwehr! Auch die freiwilligen Feuerwehren hier in unserem Landkreis OPR hatten die letzten viel zu tun. Ebenso die ehrenamtlichen Rettungsleute mit Badeunfällen und die beruflichen Rettungsdienste mit Unfällen und gesundheitlichen Sachen bei den Backofentemperaturen.
    Vielen Dank euch allen Ehrenamtlern und beruflichen Rettungsleuten! Ich mache euch immer den Weg frei und benutze mein Handy nur für Notrufe und nicht für fratzebuch- oder Instafotos von euren Einsätzen.

  20. 7.

    Also die Verantwortlichen sollten auch mal darüber nachdenken ob die Fahrer auch unbedingt immer ausgebildet sein müssen als Feuerwehr Mann vielleicht könnte das helfen die Situation zu verbessern Fahrsicherheitstraining sollten selbstverständlich sein in regelmäßigen Abständen um auf die extremen Verkehrssituationen angemessen zu reagieren.

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