101-Jähriger der Beihilfe zum Mord schuldig - Früherer Wachmann im KZ Sachsenhausen zu fünf Jahren Haft verurteilt

Di 28.06.22 | 11:23 Uhr
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Archivbild: Udo Lechtermann (l), Vorsitzender Richter, und Jörn Kattenstroh, beisitzender Richter, kommen in den Gerichtssaal. (Quelle: dpa/Fabian Sommer)
Video: rbb24 Abendschau | 28.06.2022 | C. Baradoy / Studiogast: Rechtsanwalt T. Walter | Bild: dpa/Fabian Sommer

Ein Brandenburger Gericht hat einen 101-Jährigen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach Ansicht der Richter war der Mann Wachmann im KZ Sachsenhausen und leistete Beihilfe zum Mord an Tausenden Menschen.

Ein 101-jähriger Mann ist am Dienstag in Brandenburg wegen Beihilfe zum Mord an Tausenden Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenhausen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Der Mann hatte in dem Prozess vor dem Landgericht Neuruppin bis zuletzt bestritten, in dem KZ Wachmann gewesen zu sein.

Auch die Staatsanwaltschaft hatte fünf Jahre Gefängnis für den Mann gefordert. Nebenklage-Vertreter Thomas Walther plädierte auf eine mehrjährige Haftstrafe, die ein Maß von fünf Jahren nicht unterschreiten solle. Zwei weitere Nebenklage-Vertreter forderten einen Schuldspruch, ohne ein konkretes Strafmaß zu nennen. Die Verteidigung hatte einen Freispruch gefordert.

Angeklagter bestreitet, KZ-Wachmann gewesen zu sein

Der inzwischen 101 Jahre alte Josef S. war vor dem Landgericht Neuruppin angeklagt, als damaliger Wachmann in dem KZ von 1942 bis 1945 Beihilfe zum Mord an mehr als 3.500 Häftlingen geleistet zu haben.

S. hatte in dem seit Oktober vergangenen Jahres laufenden Prozess bestritten, dass er in dem KZ tätig war und angegeben, er habe in der fraglichen Zeit als Landarbeiter bei Pasewalk (Mecklenburg-Vorpommern) gearbeitet. Die Staatsanwaltschaft stützte sich bei ihrer Anklage aber auf Dokumente zu einem SS-Wachmann mit dem Namen, Geburtsdatum und Geburtsort von Josef S. sowie auf weitere Dokumente. Das Gutachten eines Historikers, der sich intensiv mit den Nachweisen für S.' Lebensgeschichte befasst hatte, belastete den Angeklagten schwer.

Verteidiger hat Revision im Fall einer Haftstrafe angekündigt

In dem Konzentrationslager, das im Sommer 1936 von Häftlingen aus den Emsland-Lagern errichtet worden war, waren in der Zeit von seiner Errichtung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 mehr als 200.000 Menschen inhaftiert - unter ihnen politische Gegner des NS-Regimes sowie Angehörige von den Nationalsozialisten verfolgten Gruppen wie Juden, Sinti und Roma. Zehntausende Häftlinge kamen durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, medizinische Versuche und Misshandlungen ums Leben oder wurden Opfer von systematischen Vernichtungsaktionen der SS.

Josef S. ist der bisher älteste NS-Täter, der sich je vor einem deutschen Strafgericht verteidigen musste. Geboren wurde er im November 1920.

Sein Verteidiger hat angekündigt, bei einer drohenden Haftstrafe in Revision zu gehen. Der Bundesgerichtshof müsste sich dann noch einmal mit seinem Fall beschäftigen und vermutlich erst in acht bis zwölf Monaten entschieden.

Der Angeklagte kommt am 28.06.2022 zur Urteilsverkündung ins Landgericht Neuruppin. (Quelle: dpa/Fabian Sommer)Der Angeklagte Josef S. kommt am 28. Juni 2022 zur Urteilsverkündung ins Landgericht Neuruppin.

Sendung: Inforadio, 28.06.2022, 8:30 Uhr

72 Kommentare

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  1. 72.

    Wer mehr über die mutige Frau und die Widerstandsgruppe „Onkel Emil“ wissen möchte, dem empfehle ich "Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938–1948."

    Oder den Roman "Jeder stirbt für sich allein" von Hans Fallada nach einer wahren Geschichte. https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Hermann_Hampel

    Wurde auch mehrmals verfilmt. Widerstand war möglich.

  2. 71.

    Es gab nicht nur jede Menge Menschen, die sich der NS Ideologie verweigert haben, es gab auch Menschen die aktiv und passiv Widerstand geleistet haben. Nur wurden die nach 1945 als "Nestbeschmutzer" totgeschwiegen.

    https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2021/09/ruth-andreas-friedrich-onkel-emil-widerstand-drittes-reich-berlin.html

  3. 70.

    Die Quellenlage hierzu ist sehr eindeutig. Sie beginnt bei den Protokollen und Dokumenten der Nürnberger Prozesse und den Folgeprozessen. Dann ergibt sich dieses u.a. aus den vielfältigen Veröffentlichungen zum "Dritten Reich" und den Forschungsarbeiten zum, wie Eugen Kogon es nannte SS-Staat, also dem Netz aus KZ und Vernichtungslagern, sowie angeschlossen "Wirtschaftsbetrieben" und auch zum Teil aus den Forschungen zu den sogenannten Einsatzgruppen.

  4. 69.

    Der Wächter-Job in den KZ war freiwillig, und der Betritt zur SS erst recht.

  5. 68.

    Das ist mir völlig neu, dass man solch Drecksarbeit ohne negative Konsequenzen ablehnen konnte. Woher haben Sie denn dieses Wissen?

  6. 67.

    Ja, der Hitler hat alle in eine 12jährige Trance versetzt und danach war keiner dran beteiligt. Ich mache mir schon lange keine Illusionen mehr, wie die geistige Verfasstheit der Menschen ist, die man auf der Strasse sieht bzw. hier lesen kann.

  7. 66.

    Ein Verwandter der im Widerstand gegen das NS-Regime und dafür im KZ war, sagte in den langen Gesprächen die ich mit als junger Mann hatte einmal zu mir , dass er jeden als Lügner bezeichnen würde, der heute (Anfang d 80ziger) behaupten würde, er würde Widerstand leisten. Er bezog dieses auch darauf, dass sich die Leute nicht vorstellen können welcher Gehirnwäsche Menschen damals ausgesetzt waren. Ich habe keine Infos, warum der Verurteilte diesen Weg gegangen ist, Sie? Können sie es beurteilen?

  8. 65.

    Man kann es nicht mit Worten beschreiben, was damals passiert ist aber die kleinen werden gejagt und verurteilt...... die großen die dafür verantwortlich waren lässt man laufen.

  9. 64.

    Sicher sollte sich jeder überlegen, wie er gehandelt hätte.

    Aber man konnte diese "Arbeit" als KZ-Wächter ablehnen ohne negative Konsequenzen. Niemand wurde dazu gezwungen.

  10. 63.

    Bernd:
    "Ein ausgewogenes Urteil. Natürlich geht der Anwalt in Revision. Das gehört zu seiner Pflicht und finanziell lohnend ist es für ihn auch. Nur Schaumschlägerei."

    Nicht der Anwalt geht in Revision, sondern der Verurteilte! Der Anwalt ist lediglich der Verteidiger des Verurteilten. Allein der Verurteilte entscheidet, ob der Anwalt für ihn Revision einlegen soll! Eine gute Revisionsbegründung macht viel Arbeit, die bezahlt werden will.

    Bernd:
    "Der BGH entscheidet fast ausschließlich nach Aktenlage."

    Der BGH entscheidet immer nur "nach Aktenlage", da die Revision im Gegensatz zur Berufung keine Tatsacheninstanz ist!

  11. 61.

    Der Putin sucht die Nazis in der Ukraine. Er sollte hier mal die Kommentare lesen, da kann er sie finden!

  12. 60.

    @ Panke, auch ich (überzeugter Nazi-Gegner und AfD-Gegner) stelle mir oft die Frage, welche Rolle ich damals eingenommen hätte. Gleichzeitig habe ich immer die "Blindheit" der Justiz der DDR und erst recht der BRD im Umgang mit den Tätern kritisiert. Aber das heute mit angepassten Gesetzen auch Wachpersonal zur Verantwortung gezogen wird ist wichtig und richtig auch und gerade der Opfer und deren Nachkommen wegen. Verdammt nochmal!

  13. 59.

    "Alle, die jetzt laut aufschreien, sollte überlegen, ob sie damals selbst heldenhaft die Arbeit als Wachmann verweigert hätten."

    Er hatte sich freiwillig als SS Mann verpflichtet.

  14. 57.

    Es ist verdammt einfach, heute über die damalige Zeit zu richten.Alle, die jetzt laut aufschreien, sollte überlegen, ob sie damals selbst heldenhaft die Arbeit als Wachmann verweigert hätten.Ich verurteile alles, was in diesem furchtbaren System den menschen angetan wurde, bin mir aber nicht sicher, wie ich selbst in der damaligen Zeit gehandelt hätte. Deshalb halte ich mich mit einer Verurteilung zurück, obwohl ich dieses System abscheulich und menschenverachtend fand. Soolen alle, die aufschreien überlegen, ob sie das Zeug zum Helden damals gehabt haben.

  15. 56.

    Mein Kommentar war eine Antwort auf den Beitrag von #Steffen.
    Übrigens,das die Beihilfe zum Mord während der NS -Zeit spät geahndet wurde, das liegt an der Gesetzgebung die leider
    mit entsprechender Anpassung auf sich warten ließ. Die Frage ist warum.

    Gewöhnen sie sich ab, den Kommentierenden sofort eine rechtsradikale Gesinnung etc.anzudichten.

    Mein Großvater, ein Tscheche, wurde 1939 von den Nazis nach Sachsenhausen verschleppt und 1942 umgebracht.
    Ergo, warum sollte ich als ............... Es ist verletzend, so etwas unterstellt zu bekommen


  16. 55.

    Moralisch sind alle deutschen Staatsbürger schuld, die damals nicht aktiven Widerstand geleistet haben. Wir sollten den Franzosen dankbar sein, die auf Denkmäler schreiben: hier ermordeten Nazis, es waren Deutsche. Dieses Urteil ist eine Bankrotterklärung der Justiz, da es 70 Jahre zu spät kommt. Auch Kriegsgewinnler sind leider nicht enteignet worden.

  17. 54.

    Da die Strafkammer den Angeklagten verurteilt hat, ist auch seine Täterschaft bewiesen. Täter kann man durch handeln, unterlassen oder auch dulden werden.

  18. 53.

    Die Beihilfe zum Mord kann genauso bestraft werden wir der Mord. Die Anstiftung zum Mord wird regelmäßig auch mit lebenslangem Freiheitsentzug bestraft.

    Kein Richter ist an die Rechtsprechung gebunden. Wir legen das Gesetz selbst aus. Das ist auch wichtig.

    Beihilfe zum Mord wird genauso bestraft wie der Mord auch.

    Die Rechtsprechung des BGH ist ein Hinweis, aber weder Vorschrift noch Entscheidungspflicht.

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