Interview | Berliner Nachtleben - Warum über das Phänomen Needle Spiking noch so wenig bekannt ist

Ende Mai berichtete die australische Sängerin Alison Lewis alias Zoe Zanias, im Berghain mit einer Spritze attackiert worden zu sein. Andrea Piest vom Präventionsprojekt Sonar erklärt, was über sogenanntes Needle Spiking bekannt ist.
rbb|24: Frau Piest, was genau ist Needle Spiking?
Andrea Piest: Es gibt Unterschiede zwischen dem Needle Spiking und Drink Spiking. Beim Drink Spiking schüttet eine Person einer anderen ohne deren Wissen eine Substanz ins Getränk, um die Person wehrlos zu machen. Needle Spiking bedeutet, dass diese Substanz mit einer Spritze verabreicht wird.
Wie lange beschäftigen Sie sich bei Sonar schon mit dem Phänomen?
Mit dem Problem Spiking beschäftigen wir uns schon, seitdem es uns gibt. Das ist kein neues Phänomen, dass Menschen Substanzen unwissentlich verabreicht werden. Das Phänomen Needle Spiking ist erst im Herbst 2021 in Großbritannien aufgekommen und seitdem sind wir natürlich dabei, uns mit den Kolleg:innen in Großbritannien auszutauschen, so dass wir gut informiert sind, valide Aussage treffen und das beobachten können.
Wo kommen Vorfälle von Needle Spiking vor? Kann man sagen, dass sich Needle Spiking auf die Clubszene beschränkt?
Das können wir ehrlich gesagt nicht so genau sagen. Bisher sind ausschließlich Fälle aus der Techno- und Clubszene bekannt. In Großbritannien waren es auch Bars. Grundsätzlich gehen Menschen, die Macht missbrauchen wollen oder die Absicht haben, Personen auszurauben oder sexualisierte Gewalt anzuwenden, eher ins Nachtleben. Es ist wahrscheinlich ein bisschen leichter, das im Dunkeln zu tun, im Verborgenen.
In Berlin wurde von einem Vorfall berichtet. Die australische Sängerin Alison Lewis alias Zoe Zanias soll im Berghain mit einer Spritze attackiert worden sein. Gibt es noch weitere Fälle von Needle Spiking?
Uns wurden bisher keine weiteren Fälle berichtet, und es ist auch nach wie vor kein Fall zur Anzeige gebracht worden. Wir versuchen gerade, gemeinsam mit der ClubCommission Betroffene dazu aufzurufen, sich beispielsweise bei der ClubCommission zu melden und die Fälle zumindest in der Gewaltschutzambulanz der Charité zu Kenntnis zu bringen. Von einer statistischen Erfassung ließen sich dann wiederum Hinweise für die Prävention ableiten.
Wie muss man sich so eine Needle Spiking-Attacke vorstellen?
Da noch kein Betroffener einen Vorfall zur Anzeige gebracht hat und keine Zeugenaussage aufgenommen wurde, ist auch das schwer zu sagen. Die Aussagen, die bekannt sind von betroffenen Menschen, sind häufig mit Wissenslücken verbunden, was den Tathergang betrifft. Häufig wurde erst danach bemerkt, dass man gepiekt worden ist, oder dass etwas ins Getränk gemischt wurde.
Was raten Sie bei Betroffenen? Was können sie nach einer Attacke machen?
Das kommt immer ein bisschen auf die Situation an. Wir empfehlen auf jeden Fall, sofort eine andere Person zu informieren, wenn man merkt, mir ist was passiert, ich fühle mich unwohl. Das kann ein Türsteher oder Türsteherin sein oder jemand vom sogenannten Awareness-Team. Das kann aber auch eine persönliche Vertraute sein, Freund oder Freundin, die man mitgenommen hat. Gemeinsam sollte man besprechen, was jetzt als nächstes zu tun ist. Möchte man in die Rettungsstelle, möchte man zur Polizei, möchte man erstmal in den Ruheraum? Es ist wichtig, dass man auf gar keinen Fall alleine gelassen wird oder vom Clubpersonal vor die Tür gesetzt wird, weil man berauscht wirkt, oder nicht ganz bei sich ist.
Wo können sich Betroffene noch melden?
Es gibt in Berlin unterschiedliche Anlaufstellen. Weiblich gelesene Personen können auf jeden Fall zur Beratungsstelle Lara Berlin [lara-berlin.de] gehen. Das ist eine Beratungsstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt. Da geht es nicht um Anzeige, sondern um Aufarbeitung und psychologische Nachbetreuung. Männlich gelesene Personen können zu MUT [mut-traumahilfe.de] gehen, und dort erfolgt genau das gleiche Programm.
Bei der Gewaltschutzambulanz der Charité [gewaltschutzambulanz.charite.de] können medizinische Beweise gesichert werden, um diese, wenn man sich zu einer Anzeige entschließt, auch verfügbar zu haben. Gerade Einstichverletzungen oder blaue Flecken heilen schnell ab. Dort wird das alles fachgerecht dokumentiert, sodass es vor Gericht Bestand hat. Aber man sollte vorher anrufen.
Es gibt viele Diskussionen in den Sozialen Netzwerken zu Needle Spiking, auch über mögliche weitere Fälle, die aber nicht offiziell bestätigt wurden. Wie ernst muss das Problem genommen werden?
Wir gehen erstmal grundsätzlich davon aus, dass jeder gemeldete Fall - und sei es auf Social Media - natürlich ein echter Fall ist. Jeder Fall ist grundsätzlich ernst zu nehmen. Was uns fehlt, sind letztlich die Aussagen, wie es passiert ist, welche Substanz es gewesen ist. Wir wünschen uns tatsächlich von den Betroffenen, dass sie sich bei den geeigneten Stellen melden, damit wir Licht ins Dunkel bringen können.
Warum ist es für die Polizei so schwierig, Täter zu ermitteln?
Einerseits konnte bisher noch keine Substanz ermittelt werden. Falls es GHB gewesen ist – das ist nach vier bis sechs Stunden nicht mehr nachweisbar. Die meisten Betroffenen erleben das zudem als traumatisches Erlebnis und können eben nicht sofort zur Polizei gehen oder in die nächste Rettungsstelle. Das ist die Schwierigkeit.
Glauben Sie, dass es Nachahmungstaten geben wird?
Das Problem der Trittbrettfahrer:innen gibt es ja tatsächlich immer. Also je höher die mediale Aufmerksamkeit ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es Menschen gibt, die einfach nur andere Menschen pieken und dadurch Panik erzeugen wollen. Was Drink Spiking betrifft, ist das eigentlich immer auf dem gleichen Niveau geblieben über die Jahre, dass es immer mal wieder vorkommt und dann wieder abflacht. Aber statistisch wird es nicht erfasst.
Wie kann man sich vor solchen Übergriffen präventiv schützen?
Was wir empfehlen ist, einfach gut aufeinander achtzugeben, dass man zusammen mit Freunden weggeht, nicht alleine nach Hause geht. Außerdem sollte man verdächtige Personen sofort dem Clubpersonal melden, gerade wenn Leute verdächtig rumschauen, nach Gläsern Ausschau halten oder nach berauschten Persönlichkeiten. Schließlich sollte man auch wehrlose Personen ansprechen: "Hey wie geht´s dir? Kann ich irgendwas für dich tun?" oder man meldet sie beim Clubpersonal.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Victor Marquardt.
Sendung: rbb24 Abendschau, 12.06.2022, 19.30 Uhr