Eine Woche nach Tat am Tauentzien - Lassen sich Amokfahrten mit strengeren Fahrerlaubnis-Kontrollen verhindern?
Die Amokfahrt in Berlin ist nicht die erste Tat, in der das Auto absichtlich oder unabsichtlich zur Waffe wurde. Ließen sich solche Vorfälle mit einer strengeren Kontrolle der Fahrtauglichkeit von Menschen verhindern? Von Simon Wenzel
Das Auto wurde genutzt, um zu töten und zu verletzen. Ein Mensch rast in eine Menschenmenge. In Berlin vor einer Woche, in Witzenhausen oder Trier vor nicht allzulanger Zeit - Amoktaten. Ein anderer Fall: Ein Mensch erleidet einen epileptischen Anfall am Steuer und rast in eine Menschenmenge, auch in Berlin, im September 2019 - ein Unfall. Was kann unternommen werden, um solche Taten in Zukunft zu verhindern?
Könnten strengere Regeln bei der Fahrerlaubnis diese Ereignisse zumindest teilweise unterbinden, wie würden solche Kontrollmechanismen aussehen und in welchem Verhältnis stünde deren Einführung zu den Einschnitten in bisher gültiges Recht? rbb|24 spielt theoretische Möglichkeiten mit Experten-Einschätzungen durch.
An dieser Stelle sei betont, dass es nicht die Absicht sein soll, psychische oder andere Erkrankungen zu stigmatisieren. Es soll nicht darum gehen, ob Menschen mit bestimmten Krankheitsbildern grundsätzlich das Autofahren verwehrt werden muss oder kann. Vielmehr geht es bei diesem Gedankenexperiment darum, welche Frühwarnsysteme helfen können, potentielle Amoktaten oder vermeidbare Unfälle mit Autos zu verhindern.
Was bisher die Regel für eine Fahrerlaubnis ist
In Deutschland gilt bisher: Wer alt genug ist und einen Führerschein macht, bekommt seine Fahrerlaubnis. Und die bleibt, es sei denn, man baut Mist. Nur anlassbezogen darf die zuständige Fahrerlaubnisbehörde diese entziehen. "Immer dann, wenn die charakterliche Eignung in Frage gestellt wird, aufgrund von Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch oder weil man zu viele Punkte gesammelt hat", sagt der Berliner Fachanwalt für Verkehrsrecht, Gregor Samimi. Wem das passiert, der muss eine zeitlang seine Fahrerlaubnis abgeben und bekommt sie manchmal erst nach einer Medizinisch-psychologischen Untersuchung (MPU) zurück.
Diskutiert wurden in der Vergangenheit bereits Modelle, nach denen sich Senior:innen regelmäßigen Fahrtüchtigkeitskontrollen unterziehen müssten, zum Beispiel ab 75 Jahren. Konkret wurde es in dieser Frage bisher nicht, auch wenn sich gleich mehrere Umfragen finden, nach denen solche Modelle einen Rückhalt in der Bevölkerung hätten. In anderen EU-Ländern, zum Beispiel in Spanien oder den Niederlanden, gibt es solche Altersgrenzen übrigens. Hier werden regelmäßig medizinische Eignungstests zur Verlängerung der Fahrerlaubnis durchgeführt, sobald man ein bestimmtes Alter erreicht. In Deutschland gibt es regelmäßige Tests zumindest bei Berufskraftfahrer:innen.
Denkmodell 1: Eine regelmäßige Prüfung für Alle
Die erste Idee ist also nicht gänzlich neu: eine regelmäßige Fahrtüchtigkeitsprüfung. Aber nicht nur für Senior:innen oder Berufskraftfahrende, sondern für Alle. Wer seinen Führerschein macht, hätte die Fahrerlaubnis dann nur für einen vom Gesetzgeber zu definierenden Zeitraum, zum Beispiel fünf oder zehn Jahre. Die Fahrtüchtigkeit müsste so in regelmäßigen Abständen nachgewiesen werden.
Dort müssten die naheliegenden Aspekte getestet werden, wie das zum Beispiel auch bei den altersbedingten Tests in Spanien der Fall ist. Wie sind Sehfähigkeit, Koordination oder Reflexe? Aber eben auch: Gibt es Erkrankungen, wie beispielsweise eine Epilepsie, die spontan und unberechenbar zu Unfällen führen könnten? Solche Tests scheinen logistisch machbar, eventuell auch nach einem standardisierten Verfahren. Unfälle, wie der vor drei Jahren könnten so möglicherweise verhindert werden, eine Tat wie die auf der Tauentzienstraße aber nicht.
Dafür müssten auch psychologische Untersuchungen stattfinden. Gibt es Anhaltspunkte, dass der Mensch an einer psychischen Erkrankung leidet, die relevant für sein Verhalten im Straßenverkehr sein könnte und wird diese behandelt? Psychosen und Wahnvorstellungen zum Beispiel können durchaus einen Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit und die Handlungen haben – aber nur ohne medizinische Betreuung. "Eine unbehandelte Psychose verbietet die aktive Verkehrsteilnahme, weil die Menschen dann natürlich eine ganz andere Wahrnehmung haben. In einer Psychose sind Konzentration und Auffassungsgabe auch deutlich reduziert, so dass es sich grundsätzlich verbieten würde, aktiv am Straßenverkehr teilzunehmen", sagt Manuela Nunnemann, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am St.-Joseph-Krankenhaus in Weißensee.
Allerdings, und das muss an dieser Stelle betont werden: Das ist das Krankheitsbild einer unbehandelten Psychose.
Turnusmäßige Kontrollen wenig praktikabel und kaum sinnvoll
Menschen, deren Psychose medikamentös behandelt wird, sind nämlich durchaus in der Lage, verantwortungsvoll Auto zu fahren. "Wenn die Einstellungsphase abgeschlossen ist und die Betroffenen die Medikation gut vertragen, dann verbietet sich das nicht", sagt Psychologin Nunnemann. Nicht nur deshalb hält sie nichts vom Gedankenspiel einer generellen Fahrtüchtigkeitsprüfung. Der Wunsch nach Sicherheit sei zwar nachvollziehbar, aber Kontrolltermine könnten beispielsweise auch nicht verhindern, dass jemand am nächsten Tag zu viel trinkt.
Eine turnusmäßige Überprüfung aller Autofahrer:innen hält auch Rechtsanwalt Gregor Samimi für unrealistisch und problematisch. Er sieht darin einen "schweren Grundrechtseingriff, wenn man ohne konkreten Anlass aktiv wird und die Bürgerinnen und Bürger zum Test bittet". Dieser müsse sorgfältig gegen den potenziellen Nutzen abgewogen werden. Rechtlich wäre es zwar theoretisch möglich, die Fahrerlaubnisordnung zu ändern und eine zeitliche Befristung hinzuzufügen, selbst dann wäre aber eine immense Kostenfrage zu klären. Denn regelmäßige Untersuchungen müssten gezahlt werden – wahrscheinlich vom Staat. Über 44 Millionen Menschen haben in Deutschland nach aktuellen Angaben des Kraftfahrt-Bundesamtes eine Fahrerlaubnis, die müssten alle eine solche Überprüfung durchlaufen.
Denkmodell 2: Begründete Verdachtsmeldungen
Die aktuelle Praxis, dass ein Fahrerlaubnisentzug nur anlassbezogen erfolgen kann, bildet die Ausgangsgrundlage für den zweiten Denkansatz. Bisher melden vor allem Polizist:innen an die Fahrerlaubnisbehörde. Wenn Menschen mit Drogen erwischt werden, sich auffällig in Straßenverkehr verhalten oder viele Punkte sammeln, kann ihnen ein Entzug der Fahrerlaubnis und in Konsequenz eben auch eine MPU drohen. Ärzt:innen dürfen bislang aber zum Beispiel keine Meldungen machen, wenn ihre Patient:innen nicht mehr fahrtüchtig sind. Das verbietet die ärztliche Schweigepflicht.
Könnte es also sinnvoll sein, Ärzt:innen zumindest teilweise davon zu entbinden und ihnen die Möglichkeit eines Kontrollhinweises zu geben? Eine begründete Verdachtsmeldung in besonderen Fällen könnte das beispielsweise sein. So eine müssen Anwält:innen seit Ende 2020 machen, wenn es um den Verdacht von Geldwäsche geht. Hier überwiegt das öffentliche Interesse an der effektiven Geldwäschebekämpfung gegenüber der Verschwiegenheitspflicht der Anwält:innen.
"Ein Meldesystem führt zu einer Stigmatisierung"
"Denkbar ist ja vieles, aber ich tue mich da schwer", sagt Anwalt Gregor Samimi zur Idee. Für ihn sei das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger:innen und Ärzt:innen höher einzustufen, als der potentielle Nutzen einer solchen Gesetzesänderung. Die Fälle, die dadurch zu verhindern würden, seien so selten, dass sie für ihn keine so umfassende Änderung rechtfertigen würden. Rein rechtlich müsste dafür das Strafrecht geändert werden. Hier ist die ärztliche Schweigepflicht festgelegt, erklärt der Experte. Es gibt allerdings auch jetzt schon Ausnahmen: Ärzt:innen dürfen ihre Schweigepflicht gegenüber den Behörden brechen, wenn Patient:innen planen, unter Drogeneinfluss Auto zu fahren oder einen Mord zu begehen.
Eine Ausweitung, bis hin zu begründeten Verdachtsmeldungen, fände auch Psychologin Nunnemann schwierig und nicht wünschenswert. Vor allem aus moralischer Sicht. "Bei aller Tragik bin ich da sehr zwiegespalten", sagt sie. "Die Menschen haben alle eine Freiheit und gerade Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht selbstverschuldet krank geworden. Ein Meldesystem führt grundsätzlich zu einer Stigmatisierung, wir sind in der Psychatrie dabei, Stigmatisierung zu verhindern", sagt Nunnemann.
Sie will beim bisherigen System bleiben: Behandeln und Empfehlungen aussprechen. Menschen, die nicht mehr fahrtüchtig wirken, raten, das Auto stehen zu lassen. In besonders schweren Fällen versuche sie dann eher, den "sozialen Empfangsraum" mitzunehmen, also das nähere Umfeld, und schlicht den Zugang zum Autoschlüssel zu verhindern. Auch dieses Denkmodell scheint also nicht umsetzbar. Die ärztliche Schweigepflicht ist ein hohes Gut und sehr wichtig. Schließlich ist sie das Fundament für eine Vertrauensbasis zwischen Ärzt:innen und Patient:innen.
Eine einfache Lösung gibt es nicht, sorgsame Abwägung ist notwendig
Zumal nicht mal einwandfrei bewiesen ist, ob es ein signifikant erhöhtes Risiko zwischen psychischen Erkrankungen und körperlicher Gewalt gibt. Im Gegenteil: Bei vielen psychischen Erkrankungen ist nicht von einem erhöhten Gefahrenpotential auszugehen nach Expertenmeinungen. Krankheiten wie Depressionen würden beispielsweise "keine Rolle Rolle bei Gewalttaten" spielen, sagte Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie an der Uni Gießen und Expertin unter anderem für Amokdelikte, jüngst dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Bei Psychosen, wie sie mutmaßlich auch der Täter am Tauentzien gehabt haben soll, sehe das zwar anders aus, hier sei sehr wohl ein Zusammenhang zu Amoktaten her zu stellen - bei immerhin einem Drittel der Amokläufer sei laut der Expertin eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden, heißt es im Artikel [ rnd.de]. Eine niederländische Studie (NEMESIS) kommt allerdings auch zu dem Schluss, dass häufig nicht die Psychose alleine, sondern vielmehr die Verbindung mit kritischen Lebensereignisse und andere Risikofaktoren dafür sorgen würden, dass Menschen eher zu Gewalttaten neigen.
Fazit: Einige wenige der schrecklichen Unfälle oder Amoktaten in der jüngeren Vergangenheit hätten wohl mit einem der beiden Kontrollmechanismen aus den vorgestellten Denkmodellen vermieden werden können. Sicher ist aber auch das nicht. Gegen diese geringe Chance müsste sorgsam abgewogen werden, ob die seltenen Ereignisse die großen rechtlichen und moralischen Einschnitte rechtfertigen, die solche Kontrollmechanismen für viele Menschen mit sich bringen. Eine einfache Lösung, Taten und Unfälle mit dem Auto als Waffe zu verhindern, gibt es wohl nicht.
Sendung: Abendschau, 15.06.2022, 19:30 Uhr