Interview | Vorsitzender Richter - "Bei Missbrauch würde ich heute vielleicht die doppelte Strafe verhängen"

Peter Schuster verhandelte als Vorsitzender Richter aufsehenerregende Fälle: den Mord an einer jungen Frau, die von Dieben totgefahren wurde oder den "Tiefkühlmord", um die Rente zu kassieren. Zur Pensionierung spricht er offen über seine Fälle. Von Ulf Morling
rbb|24: Herr Vorsitzender Richter, als Sie 1985 Proberichter bei der Berliner Staatsanwaltschaft wurden, hatten sie noch ein Telefon-Wählscheibe. Wenn Sie jetzt gehen: hat sich seitdem etwas verändert im Kriminalgericht Moabit?
Peter Schuster: Natürlich hat sich vieles verändert, aber im Grunde genommen empfinde ich das nicht zu sehr. Technische Möglichkeiten sind dazu gekommen, zum Beispiel Internet, was gute Recherchemöglichkeiten bietet. Aber die eigentliche Arbeit eines Strafrichters oder eines Staatsanwalts ist gleich geblieben: Es sind Fälle zu entscheiden und das muss ein Richter tun. Alle Umstände und Fakten müssen durch den Kopf des Richters, sonst können sie nicht Grundlage seiner Entscheidung werden. Das hat sich nicht so sehr geändert.
Die Richter*innen sind also wie vor 50 Jahren?
Sicherlich haben sich Entscheidungen auch geändert. Im Allgemeinen müssen Richter auch durchaus gesellschaftlichen Strömungen Rechnung tragen, aber auf keinen Fall im Einzelfall. Ich kann mich erinnern, wie ich in den 90er Jahren, damals noch als Beisitzender Richter, Fälle sexuellen Missbrauchs ausgeurteilt habe. Ich würde heute vielleicht die doppelte Strafe verhängen.
Warum die doppelte Strafe? Weil sich die Gesetze sich verschärft haben oder heute ein anderes Bewusstsein in der Öffentlichkeit herrscht?
Gut, die Gesetze wurden auch verschärft. Aber es ist auch eine geänderte Einschätzung, unabhängig von den Gesetzen. Unseren Maßstab von damals würde ich heute nicht mehr nehmen, da würde ich heute noch was drauf tun. Das ist geänderte Überzeugung.
Liegt das dran, dass man mehr weiß über die Auswirkungen von Missbrauch, um den Rechtsfrieden wiederherzustellen?
Das könnte man so sagen, ja! Das ist meine Meinung. Ob die nun richtig ist, weiß ich nicht, aber ich würde das tun. Änderungen in der Ansicht gibt es schon.
Einer ihrer herausragenden Prozesse war der um den Mord an Johanna Hahn. Die 22-jährige Studentin schob ihr Fahrrad auf der Kantstraße in der City-West und wurde von Werkzeugdieben mit deren Auto erfasst, die vor mehreren Polizeiautos davonrasten. Ihre Schwurgerichtskammer verurteilt den Fahrer auch wegen Mordes an der jungen Frau.
Angefangen hatte das mit den Kudamm-Rasern. Das war Staatsanwalt Fröhlich, der hier einmal wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts angeklagt hat statt fahrlässiger Tötung. Das sind schwierige Fälle: Zum einen passt der Mordvorwurf bei den Verkehrssachen meiner Meinung nach nicht so ganz, weil derjenige, der da rast, natürlich keinen Unfall machen will. Im Fall "Hahn" will er vor der Polizei entkommen oder bei den Kudamm-Rasern will er das Rennen gewinnen. Das ist ja gerade das, was er nicht will: dass es kracht - zumal, wenn es dann noch sein hochwertiges Auto ist, was dabei kaputt geht! Auf der anderen Seite sind das so schwere Verstöße und die Folgen sind so schwer, dass die Strafen da einfach zu niedrig waren. Das entsprach nicht dem Gerechtigkeitsempfinden. Deshalb finde ich es richtig, dass man in krassen Ausnahmefällen auch bei Verkehrsdelikten wegen vorsätzlichen Tötungsdelikten verurteilt. Aber trotzdem: diese Fälle sind schwierig.
Deshalb mache ich Verkehrsrecht nicht gerne, denn die Folgen sind immer sehr schwer und in vielen Fällen ist das Verschulden des Täters gering: Der Lastwagenfahrer, der den Schulterblick unterlässt ist kein Schwerverbrecher, aber die Opfer sind platt wie Briefmarken.
2018 haben Sie mit ihrer Kammer das Urteil zu dem sogenannten "Tiefkühlmord" gesprochen. Wegen Raubmordes an einem 80-jährigen Rentner im Prenzlauer Berg war ein früherer Nachbar, ein 56-jähriger Trödelhändler, zu "lebenslang" mit besonderer Schwere der Schuld verurteilt worden. Zehn Jahre lang hatte der Angeklagte die Leiche in der Tiefkühltruhe aufbewahrt und neben der Rente seines Opfers, die einer anderen Senioren kassiert, die seit 2001 spurlos verschwunden ist. Insgesamt 385.000 Euro. Kurz vor Ihrem Urteil sagte der Angeklagte wörtlich: "Ich habe Heinz nicht umgebracht und keinen anderen!". Hatten Sie Skrupel, ihn trotzdem schuldig zu sprechen?
Nein. Grundsätzlich darf ich nur verurteilen, wenn ich überzeugt bin, und das heißt eine ganze Menge. In dem Fall bin ich völlig überzeugt, dass er es gewesen ist, also ganz klar: nein. Am 23. Verhandlungstag hatte er selbst zugegeben, die Rente kassiert und den Rentner eingefroren zu haben. Er wollte ihn nur nicht erschossen haben. Er schilderte das wie einen Selbstmord. Aber beispielsweise war der Schuss in die Stirn gegangen. Es war kein absoluter Nahschuss, sondern aus einer Entfernung von mindestens 50 Zentimetern. Und so erschießt sich kein Mensch selbst. Und Spuren, dass da jemand anderes in die Wohnung gekommen war, gab es nicht, keinen anderen Wohnungsschlüssel und keine Einbruchspuren.
Erst im Januar letzten Jahres sprachen Sie einen 62-jährigen frei, der in erster Instanz bereits wegen Mordes zu Lebenslang verurteilt worden war und zwei Jahre seines Lebens in Untersuchungshaft gesessen hatte. Vor den Augen ihres zweijährigen Sohnes war eine Berlinerin 33 Jahre zuvor (im Jahr 1987) getötet worden. Wie kann das sein: Richter*innen verurteilen den Mann zu "Lebenslang", ihre Kammer spricht ihn frei? Sie kennen die Redewendung: Zwei Richter, drei Meinungen?
Wenn es nicht reicht zur Verurteilung, dann muss ich freisprechen. Unsere Entscheidung war richtig. Dann bleibt zwar auch etwas offen und das ist unbefriedigend: ein so schweres Delikt muss bestraft werden. Aber wir dürfen nur verurteilen, wenn wir wirklich davon überzeugt sind. Uns hatte es hier nicht zur Verurteilung gereicht und dann ist der Freispruch die richtige Entscheidung. Im Schwurgericht habe ich mir das nie leicht gemacht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Ulf Mohrling, rbb|24
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.07.2022, 10:45 Uhr