Interview | Berliner Stadtmission - Warum ein Hilfsangebot für Obdachlose oft wertvoller ist als die Hilfe selbst

So 11.09.22 | 08:46 Uhr
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Archivbild: Schlafender Obdachloser neben einer Mülltonne morgens im Bahnhof Tempelhof. (Quelle: dpa/M. Tödt)
Audio: rbb 88,8 | 07.09.2022 | Interview mit Barbara Breuer | Bild: dpa/M. Tödt

Das Schicksal obdachloser Menschen bewegt und überfordert Beobachter oftmals. Die Sprecherin der Berliner Stadtmission rät dazu, Hilfe anzubieten. Man sollte jedoch auch damit leben können, dass diese nicht angenommen wird.

rbb: Guten Tag, Frau Breuer. Auf der Straße, in der Bahn oder vor Supermärkten trifft man immer wieder auf obdachlose Menschen. Oft wird man dabei mehrmals täglich mit menschlichem Elend konfrontiert. Es gibt Menschen, die können damit nicht umgehen und gehen weiter. Ist das für Sie nachvollziehbar?

Barbara Breuer: Das muss man natürlich situationsabhängig entscheiden und am Ende vor allem mit sich selbst ausmachen. Von einem grundsätzlich eher ängstlichen Menschen, der Probleme hat, andere Menschen anzusprechen, wird man nicht erwarten können, dass er jemanden anspricht, der möglicherweise unbedeckt auf einer Parkbank liegt. Wenn man mutig ist, sich traut und dabei ein gutes Gefühl hat, dann kann man es aber vielleicht schon empfehlen, jemanden anzusprechen.

Was raten Sie Menschen, die grundsätzlich gerne helfen wollen?

Schön ist es, wenn man den Leuten auf Augenhöhe begegnet, sie also nicht einfach anfasst oder aufrüttelt. So etwas würde ich grundsätzlich nicht empfehlen. Wir würden uns ja auch erschrecken, wenn wir im Bett liegen und auf einmal jemand Fremdes an uns rüttelt.

Wenn wir aber freundlich jemanden ansprechen und darauf hinweisen, dass wir die Person schon mehrere Nächte ohne Decke auf einer Parkbank haben liegen sehen und fragen, ob wir vielleicht etwas bringen können, sieht die Situation schon anders aus. Möglicherweise lohnt es sich auch einfach zu fragen, ob die Person die Hilfsangebote der Kirchen oder der Stadtmission kennt.

Viele Menschen haben vielleicht Scheu, wollen nicht aufdringlich erscheinen - oder haben Angst vor der Reaktion.

Ich glaube, man kann gar nicht von "den" obdachlosen Menschen und "der einen" Reaktion auf ein Gesprächsangebot sprechen. Ich denke, Sie und ich, wir reagieren ja auch ganz unterschiedlich, wenn uns fremde Menschen ansprechen. Und so ist das bei obdachlosen Menschen natürlich auch.

Wenn eine Person psychisch erkrankt oder verwirrt ist, vielleicht gerade Angstzustände hat und dann auch noch plötzlich von der Seite angequatscht wird, kann das natürlich dazu führen, dass er oder sie sich so verhält wie wir das nicht erwarten. Wenn jemand aber ganz ruhig irgendwo ist und vielleicht mit einem Becher schnorrt, kann man natürlich auf die Person zugehen und sagen: "Hey, ich sehe Sie hier jeden Tag sitzen. Kann ich Ihnen einen Kaffee bringen? Brauchen Sie irgendwas?"

Wie sinnvoll ist es, sich in einer unklaren Situation an ein Hilfsangebot zu wenden?

Ich würde es immer von der Situation abhängig machen und mit ein bisschen Fingerspitzengefühl vorgehen. Wenn man gar nicht so richtig weiß, wie man mit der Situation umgehen soll, kann man sich natürlich an soziale Organisationen wenden. Demnächst ist dann auch der Kältebus wieder unterwegs.

Da suchen wir dann Menschen, die auf der Straße leben, in den kalten Nächten auf. Unser Ambulanz-Bus der Berliner Stadtmission fährt außerdem auch jetzt in den Sommermonaten zweimal in der Woche umher und versorgt Menschen, die auf der Straße leben, mit medizinischen Angeboten. Also klar, man kann sich auch an andere wenden und sagen, ich habe da was beobachtet, was empfehlt Ihr zu tun?

Man muss einfach von Herzen entscheiden, dass man überhaupt etwas geben möchte. Wenn man dann bei einem Angebot sogar noch ins Gespräch kommt, ist unheimlich viel gewonnen.

Barbara Breuer, Sprecherin der Berliner Stadtmission

In welcher Situation ist Hilfe unumgänglich?

In den heißeren Sommermonaten auf jeden Fall, wenn jemand in der Hitze eingeschlafen ist und knallrot in der Sonne liegt. Wenn man sieht, dass jemand in Not ist, dann sollte man natürlich auf jeden Fall Hilfe rufen. Gleiches gilt auch, wenn man sieht, dass jemand nachts irgendwo auf einer Parkbank liegt und bedroht oder vielleicht sogar geschlagen wird. In dem Fall sollte man selbstverständlich umgehend die Polizei informieren.

Andererseits haben wir oft den Fall, dass im Winter besorgte Menschen den Kältebus anrufen, ohne dass Obdachlose überhaupt gefragt worden wären, ob sie die Hilfe möchten. Das ist schwierig. Möglicherweise fährt der Kältebus dann von Wilmersdorf nach Lichtenberg, findet jemanden auf der Parkbank vor, der sagt nein, ich will nicht mitfahren.

Also da ist es schon gut zu sagen: "Entschuldigung, ich mache mir Sorgen um Sie. Wären Sie damit einverstanden, dass ich den Kältebus für Sie rufe?" Wenn derjenige sagt, ja klar gerne, dann kann man das tun.

Was kann obdachlosen Menschen im Alltag helfen? Nicht immer beobachtet man Notfälle.

Also ich finde, Geld ist eine gute Sache. Damit kann derjenige dann machen, was er möchte. Das ist wie ein Geschenk. Man entscheidet sich in dem Moment, jemanden zu beschenken - und zwar bedingungslos. Wenn derjenige vielleicht suchtmittelabhängig ist, zum Beispiel Alkohol braucht, dann sagen viele, der kauft sich davon sowieso nur Alkohol. Das stimmt natürlich. Vielleicht hilft das Geld aber auch, die ein oder andere Straftat zur Beschaffung zu verhindern. Die Person kann sich dann einfach legal Alkohol in einem Geschäft kaufen.

Viele Leute sagen ja auch, ich habe jemandem einen Apfel angeboten, und der hat den gar nicht genommen. Die Menschen sind dann aber nicht undankbar. Viele obdachlose Menschen haben ganz einfach schlechte Zähne, manche sogar gar keine. Die können die Äpfel gar nicht beißen oder kauen. Ich glaube, man muss einfach von Herzen entscheiden, dass man überhaupt etwas geben möchte. Wenn man dann bei einem Angebot sogar noch ins Gespräch kommt, ist unheimlich viel gewonnen.

Obdachlosigkeit in Berlin

Wie viele obdachlose Menschen genau in Berlin leben, ist derzeit nicht bekannt. Im Februar 2020 wurden bei einer ersten offiziellen Zählung 1.976 Personen erfasst. Im Juni 2022 sollte es eigentlich eine weitere Zählung geben. Sie ist auf das kommende Jahr verschoben worden, weil sich zu wenige Freiwillige gemeldet hatten, die die Zählung hätten durchführen können. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass weit weit mehr Menschen als zuletzt gezählt auf der Straße leben. Viele Obdachlose hätten sich bei der Zählung möglicherweise versteckt oder auf Ansprachen nicht reagiert.

Das Angebot an sich kann also in bestimmten Momenten wertvoller sein als die Hilfe selbst?

Ja. Ich habe neulich in der S-Bahn zum Beispiel einen jungen Mann getroffen, dem es offenbar gar nicht gut ging. Ich habe ihn angesprochen und einfach gefragt, was er sich denn am meisten in der Situation wünschen würde. Der Mann war so Anfang 20 und sagte, seine Familie hätte ihn längst aufgegeben. Dieser Mann wünschte sich am meisten, dass er als Mensch gesehen und wahrgenommen wird. Darum geht es in vielen Fällen. Es geht nicht nur um Geld. Es geht einfach darum zu sagen, wir sehen euch, wir akzeptieren euch als Teil dieser Gesellschaft. Und wir wollen euch auch helfen. Inwieweit diese Hilfe von den Leuten angenommen wird, entscheiden diese selbst. Das muss man dann respektieren.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lydia Mikiforow. Für die Online-Fassung ist es gekürzt und redigiert worden. Mit einem Klick auf den Playbutton im Artikelbild können Sie das ganze Gespräch hören.

Sendung: rbb 88,8, 07.09.2022, 8:40 Uhr

12 Kommentare

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  1. 12.

    Ja sicher haben auch die vorherigen Politiker nichts getan ist ja auch kein Wunder wenn gerade im Sozialbereich gespart wird und jetzt noch viel mehr auch bei der Jugendarbeit bei Altersarmut.
    Ich Messe Politiker immer an ihre Wahlversprechen und gerade die Ampel hat es versprochen dort mehr zu machen.
    Wenn man es so richtig betrachtet wird es keine Regierung schaffen oder wollen. Mit Obdachlosen kann man nichts verdienen.
    Aber ich bin der Meinung das die Ampel besonders Berlin in einen schlimmeren Zustand gebracht hat als es vorher war. Hier in BB geht es noch da werden Hilfsangebote auch angenommen.
    Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche und dem rbb24 auch.

  2. 11.

    "aber eins weiss ich mit dieser Ampelregierung kommen wir nicht weiter." Daran haben sich doch auch schon vorangegangene Regierungen erfolglos versucht. Und, mal ehrlich, was soll die Politik tun? Man kann niemanden zwingen, sich in die Gesellschaft zu integrieren oder sich medizinisch behandeln zu lassen. Und Hilfsangebote von uns Mitmenschen oder Gespräche sind dich höchstens der berühmte Tropfen....

  3. 10.

    Werte @ Claudia 13469,
    Da haben Sie völlig Recht. Viele sind nicht in Lage Anträge zu stellen und sich Hilfe zu suchen.
    Das Schlimme an der Sache ist ja das auch viele aus Osteuropa und auch Flüchtlinge dazugehören.
    Es ist doch nicht weniger geworden im Gegenteil es wird immer mehr..
    Ich darf und will nicht weiterdenken wie das alles werden soll, aber eins weiss ich mit dieser Ampelregierung kommen wir nicht weiter.


    ..

  4. 9.

    Ich kann nur jedem, der sich informieren möchte, den exzellenten Podcast "Unter freiem Himmel" empfehlen. Der ist von einem ehemaligen Obdachlosen und beantwortet viele Fragen, die man vielleicht gerne mal den Betroffenen stellen würde.
    Räumt auch mit vielen Vorurteilen auf.

  5. 8.

    Die wollen nicht untergebracht werden. Und wenn, dann zu ihren eigenen Bedingungen. Was gibt es denn da nicht zu verstehen.

  6. 7.

    Es gibt ja mehrere Organisationen, die sich um Obdachlose kümmern, ihnen -falls gewünscht- helfen, ihre Situation zu ändern. Viele wollen das aber gar nicht, sie gehen nicht in die Unterkünfte, weil dort Alkohol und Tiere nicht erlaubt sind und in der Anonymität der großen Stadt kann man sich ja auch jeglichen Verpflichtungen entziehen.

  7. 6.

    Meine Kleiderspenden wollte keiner an der Bahnhofsmission Zoo, man bräuchte momentan Schlafsäcke. Für mich ist dieses Thema Obdachlosigkeit abgehakt.
    Wir leben in einen guten Sozialstaat wo jeder Anspruch auf Grundsicherung hat auch Obdachlose. Der Artil ist sehr gut geschrieben und Frau Breuer ist zu bewundern...aber eigentlich ist es Sache des Senates, Flüchtlinge werden doch auch versorgt und untergebracht . Es geht doch nicht darum den Kältebus zu rufen oder jemanden essen zu geben, das wollen die auch nicht, es geht darum das in einem reichen Land wie Deutschland überhaupt Obdachlosigkeit und Armut gibt.

  8. 5.

    Sie wollte bestimmt Alkohol,so traurig das klingt Habe neulich auch erlebt wie ein Frau mit einem angetrunken offenbar Obdachlosen sprach.Sie könne nicht verstehen warum man sich ständig betrinken müsse Er solle lieber Mal Tee trinken Das hat er natürlich nicht verstanden.Es sind auch viele die auf der Straße Leben psychisch krank und da kann nur eine ärztliche Behandlung helfen und kein guten Ratschläge von Senat

  9. 4.

    Ich habe neulich einer Obdachlosen älteren Dame, die ich schon öfter sah, eine Tüte mit Lebensmitteln geben wollen. Sie schrie mich an, ich solle verschwinden und meinen Kram mitnehmen. Ich sagte, ich hätte ein paar Lebensmittel für sie und stellte ihr die Tüte hin. Daraufhin trat sie danach und schrie mich wieder an, ich solle abhauen. Das tat ich dann. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.

  10. 3.

    Mal abgesehen davon, dass das so nicht im Artikel steht... Ich würde eher Hilfe rufen, als jemanden anzusprechen. Sachspenden bringe ich der Stadtmission, die arbeitet mit der Kältehilfe zusammen. Ich finde es nicht sinnvoll, das Leben auf der Straße gemütlich zu machen.

  11. 2.

    Ich möchte mal meine Erfahrungen einbringen!
    Es gibt Menschen die sind dankbar und andere eben nicht.
    Deshalb möchte ich einfach sagen, es ist nicht immer einfach das richtige zu tun.
    Man sollte es versuchen einzuschätzen wenn man es kann , fragen kostet nichts und Wertschätzung auch nicht wir leben in einem christlichen Land mit christlichen Werten.

  12. 1.

    Ist das wirklich der Ernst von Frau Breuer, dass ich erfrierende, u.U. nicht-deutschsprachige Menschen erst um ihr ausdrückliches Einverständnis bitten soll, bevor ich ein professionelles Hilfeteam anrufen darf? Ich fasse es nicht. Das wurde in den vergangenen Jahren irgendwie anders in den Medien dargestellt, oder?

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