Interview | Berliner Therapeutin zu Kriegsangst - "Angst zu haben ist in diesen Zeiten mehr als nachvollziehbar"
Ein Jahr ist vergangen, seit Russland die Ukraine angegriffen hat. Ein Jahr, dass auch die Menschen in Deutschland nicht kalt lässt, ihnen Angst macht. Wie man mit dieser Angst einen Umgang findet und wen sie vor allem trifft, erklärt eine Berliner Therapeutin.
rbb|24: Frau Meyer-Legrand, zurzeit könnte man die Vorstellung haben, in Russland säße Wladimir Putin mit zuckendem Finger am roten Knopf. "Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben", sagte auch Bundeskanzler Olaf Scholz. Doch einen etwaigen Atomkrieg zu verhindern, liegt nicht wirklich in der Macht einzelner anderer. Wie kann man einen Umgang damit finden, dass da offensichtlich ein Machthaber am Knopf sitzt, der zu allem bereit ist?
Ingrid Meyer-Legrand: Auf diese Frage haben wir als einzelne Menschen kaum eine Antwort. Wir schauen jetzt auf ein Jahr Krieg in der Ukraine zurück. Und wenn ich mich daran erinnere, wie die Stimmung am Anfang des Krieges war, kann ich sagen, dass die Menschen da wirklich eine wahnsinnig große Angst hatten. Das ging so weit, dass Menschen, mit denen ich in meiner Praxis gesprochen habe, teilweise ihre Wohnung gingen und sich gefragt haben, wie das wäre, wenn sie die verlassen müssten. Zurzeit habe ich – obwohl nichts gelöst ist - den Eindruck, dass die Angst etwas unaufgeregter ist.
Die Stimmung scheint mir eher von Ohnmacht beziehungsweise von Erschöpfung getragen. Denn der Krieg ist ja nicht die einzige Krise, die wir haben. Die Corona-Pandemie haben wir gerade einigermaßen in den Griff bekommen. Aber nun gab es gerade dieses große Erdbeben in der Türkei und Syrien – und die Klimakrise ist in keiner Weise gelöst. Die Krisen häufen sich also. Das kommt bei den Menschen, mit denen ich in meiner Praxis zu tun habe, als unglaubliche Überforderung an. Es kommt zwar kaum jemand und sagt, er habe Kriegsangst und fühle sich ohnmächtig. Aber viele kommen zu mir und sagen, dass sie erschöpft sind und nicht wissen, woher das kommt.
Die Erschöpfung ist also eine Art Symptom für die Kriegsangst?
Ja. Das würde ich so sehen. Tatsächlich können die einzelnen Menschen ja fast nichts machen, um mit dieser Wahnsinnsangst umzugehen. Beziehungsweise es haben ja viele schon etwas gemacht. Sie sind mit ihrer Angst umgegangen, indem sie selbstwirksam geworden sind. Sie haben beispielsweise Geflüchtete aufgenommen oder haben den Ankommenden anderweitig geholfen. Auch davon - von dem Bemühen, etwas gegen Ihre Angst zu machen - sind viele erschöpft.
Wie lange kann man das denn aushalten – so eine Gesellschaft in Angst, wie wir das jetzt gerade geworden sind? Der Krieg geht ja jetzt schon ein Jahr.
Darauf haben wir keine Antwort bislang. Wir lernen gerade, damit umzugehen. Das macht jede und jeder sehr unterschiedlich – je nachdem, wie der Krieg und die Krise persönlich bei einem ankommen.
Ist es grundsätzlich besser, sich seiner Angst zu stellen oder sie zu verdrängen?
Gunter Schmidt, ein berühmter Kollege von mir, hat einmal gesagt: "Wer Angst hat, hat Zukunft." Das heißt, dass Angst evolutionsbiologisch einfach sinnvoll ist. Wir sind auch die Menschen, die von den Menschen abstammen, die einst Angst hatten – und sei es ganz simpel vor dem Säbelzahntiger. Also von denen, die weggelaufen sind, gekämpft haben – oder sich totgestellt haben. Die Menschen verhalten sich in Angstsituationen ganz unterschiedlich. Manchmal ist es gut, zu verdrängen. Das heißt in der Realität, dass man beispielsweise die Nachrichten ausstellen kann, um für eine Weile keine News mehr zu konsumieren.
Das machen ja auch viele so. Sie nehmen sich nur Dinge vor, die sie tatsächlich bewältigen können. Das können sehr kleine Vorhaben sein, wie die eigene Wohnung in Ordnung zu bringen. Angst ist etwas ganz Individuelles. Aber Angst zu haben ist in diesen Zeiten mehr als nachvollziehbar.
Wer Angst hat, dem empfehle ich, mit seiner Angst in den Dialog zu gehen und sie zu befragen, was sie braucht. Oder man fragt sich, wann die Angst weggeht. Generell kann man sagen: Wer Angst hat, braucht Sicherheit. Man kann sich fragen, in welcher Form man Sicherheit braucht. Da wir soziale Wesen sind, fühlen wir uns sicherer, wenn wir uns mit anderen Menschen austauschen können.
Welche Personengruppen in Deutschland leiden derzeit besonders unter Ängsten?
Ich habe tatsächlich mehr Anfragen von Jugendlichen und jungen Menschen. Ich denke, das ist noch ein Ausläufer von Corona. Und es melden sich vermehrt 40 bis 50-jährige Frauen, die noch schulpflichtige Kinder haben. Die sind besonders belastet. Sie melden sich vor allem wegen Erschöpfung. Die Jugendlichen hingegen sind diejenigen, die sich wegen Angststörungen melden.
Sie haben die Mütter gerade schon angesprochen. Was können Eltern tun, wenn Kinder sich stark ängstigen? Es geht ja nun in diesem Fall nicht um imaginäre Monster unter dem Bett, sondern um einen reellen Krieg, von dem man nicht weiß, wie er sich weiter entwickelt.
Da stellt sich die grundsätzliche Frage, wie man mit einer bedrohlichen Ungewissheit umgeht. Und wenn man das Wort Ungewissheit aufruft, ist es fast naheliegend, nach den Dingen zu fragen, bei denen man eine Gewissheit hat. Einen drohenden Atomkrieg kann der einzelne nicht handhaben. Das heißt, je nachdem, wie alt Kinder und Jugendliche sind, muss man entweder von dem Thema des Atomkriegs ganz bewusst ablenken und hinlenken zu selbstwirksamen Aktivitäten. Da geht es darum zu schauen, wann sich jemand einer Lage gewachsen fühlt. Bei Jugendlichen kann es sein, dass man auf die nächste Mathearbeit fokussieren sollte. Denn die Frage nach dem Atomkrieg ist ja unlösbar.
Eine Soziologin sagte mir neulich im Interview, im Hinblick auf Corona, Klimawandel und Krieg sei es jetzt vorbei sei mit der Art von normativer Kindheit ohne große Disruptionen, wie wir sie kennen. Die habe es sowieso in der Menschheitsgeschichte selten gegeben. Wie kann man sich als Eltern auf so etwas einstellen - dass die Sache mit der heilen Welt jetzt also endgültig passé ist?
Eine heile Welt gab es ja sowieso noch nie – das ist ja der Punkt. Wir sollten uns daher fragen, welchen Platz wir dem Leid, den dunklen Seiten in unserem Leben geben. Es ist ja immer noch anzustreben, dass wir unseren Kindern ein gutes Aufwachsen ermöglichen. Es gehört aber auch dazu, ihnen nicht alle Steine aus dem Weg zu räumen, sondern sie bei den anfallenden Hindernissen beim Aufwachsen zu begleiten. Dann kommen wir zu einem anderen Umgang mit sehr existentiellen Fragen und zu neuen Lösungen, wie wir mit Leid umgehen, das wir selber nicht beeinflussen können. Daraus können sehr nachdenkliche junge Erwachsene hervorgehen – die wir auch für unsere Gesellschaft gut gebrauchen können. Wenn wir an die Friday For Future – Bewegung denken, müssen wir allerdings anerkennen, dass gerade sie bereits gut unterwegs sind und ein großes Engagement für unsere Gesellschaft an den Tag legen. Grundsätzlich weisen sie damit in die richtige Richtung: sich mit anderen zusammen zu schließen und das Sehnsuchtsziel wieder in den Blick zu nehmen. Nach dem Motto von Maja Göpel: Wir können auch anders.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess für rbb|24.
Sendung: Brandenburg Aktuell, 26.02.2023, 19:30 uhr