Berliner U-Bahn - Ein Mensch legt sich auf die Gleise - was tun?

Mi 09.08.23 | 07:24 Uhr | Von Yasser Speck
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Symbolbild: Blick auf einer U-Bahn an der Haltestelle Heidelberger Platz (Quelle: IMAGO/Florian Gaertner)
Audio: Fritz | 09.08.2023 | Josephin Domaschke/Jule Kaden | Bild: IMAGO/Florian Gaertner

Berlin, Hallesches Tor: Am frühen Sonntagmorgen legt sich ein Mann auf die Gleise, die nächste U-Bahn rollt in vier Minuten ein. Zwei Männer springen ins Gleisbett, um ihn zu retten und riskieren dabei ihr Leben. Haben sie alles richtig gemacht? Von Yasser Speck

Luna Kommoß war am frühen Sonntagmorgen auf dem Heimweg. Sie war mit ihrem Freund in einem Club gewesen. Am Halleschen Tor mussten sie auf die U-Bahn warten. Dabei fielen ihnen drei Männer auf. "Die wirkten ein bisschen wie drei betrunkene Typen. Zwei waren so Mitte bis Ende 20. Die beiden haben einen jüngeren Mann immer zurückgehalten", beschreibt Kommoß die Situation. Sie habe nicht ganz verstanden, worum es bei den Dreien geht.

Irgendwann sei dann der junge Mann an den beiden anderen vorbei auf die Gleise der U6 hinabgestiegen und habe sich dort hingelegt.

Vier Minuten bis zur nächsten U-Bahn

"Dann lag er da. Mitten auf den Gleisen. Mein Freund und ich haben dann geschaut, wann die nächste Bahn kommt. Da stand dann: in vier Minuten", erzählt Kommoß. Vier Minuten - 240 Sekunden: Dann rollt die nächste Bahn ein und wird den Mann in höchste Lebensgefahr bringen.

Einer der beiden Männer, so erinnert sich Kommoß, fackelte nicht lange. Er sei direkt zu dem jungen Mann in das Gleisbett gesprungen. "Er hat den jungen Mann im Gleisbett dann an den Armen gegriffen. Der andere ist dann hinterher gesprungen und hat geholfen, den offensichtlich unter Drogen stehenden Mann mitten auf den Gleisen aufzustützen", so Kommoß.

"Einer der beiden Retter ist dann hoch auf den Bahnsteig und hat den kaum ansprechbaren jungen Mann von oben herausgezogen." Dann sei der zweite Retter nicht mehr aus eigener Kraft auf den Bahnsteig gekommen. Er musste von dem anderen Helfer ebenfalls aus dem Gleisbett gezogen werden. Aus dem Retter sei plötzlich ein Geretteter geworden.

Drei Notsignalschalter pro Bahnsteigseite

Luna Kommoß erinnert sich an den Mann im Gleisbett: "Er hatte offene Wunden am Arm und im Gesicht und wirkte, als wäre er auf Drogen." Sie habe sich gefragt, was sie jetzt in dem Moment machen solle. "Wen rufen wir jetzt an? Müssen wir irgendwas betätigen? Was müssen wir jetzt alle tun", fragte sich Kommoß in der Nacht.

Jannes Schwentu ist Pressesprecher der BVG. Er erklärt, was in so einer Situation, wie sie Luna Kommoß erlebt hat, zu tun ist: "Umgehend einen der sogenannten Notsignalschalter betätigen. Von diesen 'roten Kästen mit Griff' sind pro Bahnsteigseite in der Regel drei Stück installiert. Wird der Griff gezogen, werden die Signale für die Züge umgehend auf Rot gestellt und sie können nicht mehr in den Bahnhof einfahren."

Symbolbild: Notsignalschalter zum anhalten des Zuges im U-Bahnhof (Quelle: IMAGO/Andreas Friedrichs)
Ein Notsignalschalter zum Anhalten des Zuges | Bild: IMAGO/Andreas Friedrichs

Erst Notsignalschalter, dann der SOS-Knopf

Sobald man an dem roten Griff gezogen habe, solle man bei einer Notruf- und Informationssäule den SOS-Knopf drücken, erklärt Schwentu. "Dadurch wird eine direkte Sprechverbindung mit unserer Leitstelle Sicherheit hergestellt." Die Kolleg*innen dort könnten dann den Notfall aufnehmen und zum Beispiel den Rettungsdienst schicken.

"Außerdem werden sie sich umgehend über die Kameras vor Ort einen Überblick über die Situation verschaffen", erklärt Schwentu. Diese "Anleitung" gelte auch, wenn sich ein großer Gegenstand wie ein Fahrrad im Gleis befinde. "Bei einem kleinen Gegenstand wie einem Handy muss und sollte das Notsignal hingegen nicht geschaltet, sondern nur über den SOS-Knopf die Leitstelle kontaktiert werden. Diese schickt dann Hilfe", sagt der Pressesprecher.

Die beiden Retter hätten dennoch etwas falsch gemacht. Schwentu betont nämlich, dass man sich auch nach Betätigen des Notsignalschalters nicht ins Gleis begeben solle. "Der Grund: Die sogenannte Stromschiene neben den Gleisen steht weiterhin unter einer lebensgefährlichen Spannung. Sie muss erst durch die Leitstelle oder den Betriebsdienst abgeschaltet werden."

In Handschellen abgeführt

Als Kommoß sah, dass der Mann aus dem Gleisbett gerettet war, ging sie nicht zur Notrufsäule, sondern rief mit dem Handy die 112 an. "Ich hatte das Gefühl, dass er ein psychisches oder physisches Problem hat. Da dachte ich, medizinische Hilfe wäre notwendig. Ich wollte auf jeden Fall, dass sichergestellt wird, dass es ihm körperlich gut geht."

Die Sanitäter informierten auch die Polizei, die zehn Minuten später eintraf. Die Beamten versuchten auf den Mann einzureden. Doch der verstand offenbar kein Deutsch. Also legten sie ihm Handschellen an und nahmen ihn mit. Kommoß wunderte das.

Was hätte ich denn alleine gemacht? Ich hätte vermutlich nicht den Mut gehabt, in das Gleisbett zu springen.

Luna Kommoß, Augenzeugin

An die Minuten vom Sonntagmorgen wird sich Luna Kommoß noch lange erinnern. "Dass sich jemand in Lebensgefahr bringt und ihn Menschen retten müssen, damit er nicht stirbt - das habe ich noch nie erlebt."

Sie sei sehr dankbar, dass die beiden Männer da gewesen seien. Dankbar für deren Zivilcourage. "Ich habe mich schon gefragt: Was hätte ich alleine denn gemacht? Ich hätte vermutlich nicht den Mut gehabt, in das Gleisbett zu springen."

Sendung: Fritz, 09.08.2023, 16:40 Uhr

Beitrag von Yasser Speck

97 Kommentare

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  1. 97.

    Wenn man Wunsch und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten kann, dann kommen halt solche Aussagen.
    War das nicht Mary Poppins, die mit einem Regenschirm fliegen konnte? Warum macht das keiner. Die Öffentlichen wären entlastet.
    Ach nee, ich verwechsel da wohl was.

  2. 96.

    Wenn man Wunsch und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten kann, dann kommen halt solche Aussagen.
    War das nicht Mary Poppins, die mit einem Regenschirm fliegen konnte? Warum macht das keiner. Die Öffentlichen wären entlastet.
    Ach nee, ich verwechsel da wohl was.

  3. 95.

    Also ich dachte gleich an dem Film
    Während Du schliefst!
    Da rettete Sandra Bullock auch jemanden von den Gleis.
    Ist doch tolle Heldentat

  4. 94.

    Welch ein Unsinn. Bei einer Hilfeleistung verlangt kein Gesetz sich selbst in Gefahr zu bringen. Ihnen steht aber auch nicht frei wegen irgendwelcher wirrer Annahmen nicht zu helfen.
    Im vorliegenden Fall hätte es völlig gereicht einen der vorhandenen Notschalter zu betätigen. Sie hätten damit ihre Pflicht erfüllt und sich selbst nicht gefährdet.
    Das sind logische Überlegungen und rationales Handeln was für einen normalen Menschen selbstverständlich ist.

  5. 93.

    Der im Beitrag geschilderten Fall ist kein Fall für langwierige philosophische Überlegungen. Jeder der öffentliche Verkehrsmittel benutzt sollte mal einen Blick auf die Nothilfe Einrichtungen in den Fahrzeugen und auf den Bahnhöfen werfen.
    Zugegeben, diese Schalter oder andere Einrichtungen sind oft etwas versteckt aber jeder kann wie in den vorliegenden Fall helfen ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Dazu ist kein Mensch verpflichtet. Und das ausschließliche Verlassen auf das Handy ist auch nicht immer ideal da diese Notrufe oft längere Umwege nehmen.
    Aber jeder sollte sich bei Wartezeiten einmal auf dem Bahnhof und den Wagen nach Rettungseinrichtungen umsehen wo sich ein Notschalter oder eine Notbremse angebracht ist.
    Aber auch die BVG und die DB sollten mit gut sichtbaren und einfach abgefassten Schildern auf die Rettungseinrichtungen besser als bisher hinweisen. Nur ein roter Kasten für den Notschalter ist zu wenig wenn viele nicht wissen wofür diese Kästen sind.

  6. 92.

    "Einer der beiden Retter ist dann hoch auf den Bahnsteig und hat den kaum ansprechbaren jungen Mann von oben herausgezogen." Dann sei der zweite Retter nicht mehr aus eigener Kraft auf den Bahnsteig gekommen. Er musste von dem anderen Helfer ebenfalls aus dem Gleisbett gezogen werden. Aus dem Retter sei plötzlich ein Geretteter geworden." - Da frage ich mich doch, was hat Luna Kommoß und ihr Freund die ganze Zeit gemacht? Gegafft? Gefilmt? Sollten die nicht eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung bekommen?

  7. 91.

    das die Beamten sich aufgrund der ersten Berichte vor Ort und dem beobachteten Unvermögen das weitere vorgehen mit dem Verursacher abzustimmen , nach längerem erfolglosen Kommunikationsversuchen, die Person mit handfesseln sichern und diesen dann zum Fahrzeug verbringen, gehen konnte de Person ja scheinbar noch, habe ich jetzt ehrlich gesagt nicht als störend empfunden. auch für die Beamten gilt sowohl auf dem Bahnsteig neben dem Gleisbett, wie auch während der fährt im Fahrzeug. Eigensicherung geht vor... unabhängig ob die Person jetzt psyschich krank ist oder nur die Sprache ggf auch nicht mehr beherrscht... der Arzt kann die weitere Entscheidung treffen notfalls mit Hilfe eines Linguisten. auch den Beamten kann man hier mal vertrauen das diese die Entscheidung für die handfessel aufgrund der Situation abwägen und ggf später auch am richtertisch begründen können... dafür sind diese ausgebildet.

  8. 90.

    danke Heike, Frage mich nur ob bei der Notbremse außerhalb des Bahnhofes, der Zugführer den Person im Gleisbett zustand sofort erkannt hätte, vermutlich nicht da ausser Sicht, für mich klar das Notbremse ausgelöst wird am Zug aber der Strom noch an ist auf der seitlichen Stromschiene.. der Fahrstrom wird dann also erst aus dem Fahrdienst abgeschaltet. nach Eingang info Person im Gleisbett... s p a e t e r. und muss dann zusätzlich noch durch kurzschliesser gegen wieder einschalten oder Entladungen aus aggregaten kurzgeschlossen werden. bei kilometerlangen Oberleitungen Zug bzw Bahnstrecken gibts da auch ne statische Ladung vom nachbargleis EV...die damit kurzgeschlossen wird..höhere Spannungen dort...
    demzufolge war also für die beiden Helfer noch Fahrstrom auf der nach unten offenen seitenSchiene AN.... 750 volt

  9. 89.

    Unglaublich, das so viele Menschen die Notbremse auf dem Bahnsteig nicht kennen...
    ß Die Dinger gibt es seit mindestens 30 Jahren!

    Tip: Auch bei Gewalttaten Notrufknopf, oder Notbremse nutzen!

  10. 88.

    Klingt logisch. Das Signal Sh0 '3 × Rot untereinander' und kurz vor der Bahnhofseinfahrt reagiert die Zwangsbremsung bei Durchfahrt nicht, weil der hierfür notwendige Magnet wissentlich weggelassen wurde. (Ironie und Sarkasmus off). Keine Ahnung was hierfür der wichtige Grund ist.

  11. 87.

    Danke für die Info, Dieter. Hatte ich nicht so auf dem Bildschirm. Irgendwie an Oberleitung oder Diesel(motoren) gedacht. So. :-)

  12. 86.

    Dass sich bei Gleisen auch eine Starkstromschiene befindet, gehört eigentlich zum allgemeinen Grundwissen und ist keine Berlin-Besonderheit.

    Ich habe den SOS-Knopf mal am Ku-Damm gedrückt, weil ein Papierkorb brannte. Gekommen ist niemand. Nach einer Weile habe ich dann gedacht "nach mir die Sintflut" und meinen Weg fortgesetzt.
    Der SOS-Knopf ist offenbar nur Makulatur.

  13. 85.

    Nur komisch, dass genau das Zugabfertigern, die es leider nicht mehr gibt, in der Ausbildung und bei jährlichen Dienstunterweisungen beigebracht wurde. Wozu sind im Fahrerstand der U Bahn und in den Diensträumen auf den Bahnsteigen Kurzschließer vorhanden?

  14. 84.

    Das mit dem Hohlraum unterm Bahnsteig stimmt bei der U-Bahn nur bedingt. Viele davon werden zugemacht weil die den Platz für Kabel und so brauchen

  15. 83.

    Ja da haben Sie recht. Man sollte noch vor dem Zug und hinter dem Zug die Kurzschließer setzen bei einem Fahrgastunfall oder bei Personen die im Gleis liegen! Die Feuerwehr geht eh erst ins Gleis wenn der Strom abgeschaltet ist und die Kurzschließer gesetzt wurden

  16. 82.

    Wer hat denn davon schon einmal gehört: Notsignalschalter?
    SOS-Knopf? Und das drei Mal je U-Bahnsteigseite. Das sich neben den Gleisen eine unter Starkstrom stehende Stromschiene befindet war mir als langjähriger Berlin-Besucher auch unbekannt. Das man sich nicht ins Gleisbett begeben darf, weiß dagegen jeder. Mit meinem bisherigen Wissen hätte ich 110 angerufen mit meinem jetzigen den Notsignalschalter und SOS-Knopf gedrückt.

  17. 81.

    "Selbstverständlich kontariert sowohl (Alltags)Politik als auch tatsächliche Alltagswirklichkeit und Alltagshandeln seit tausenden Jahren fortlaufend diesen Grundsatz der Zivilisation."
    Sie meinen sicher kontakariert. Was Sie da als Rechtslage zum Thema unterlassene Hilfeleistung zusammenfaseln, ist aus dem Zusammenhang gerissen und entbehrt offensichtlich jeglicher Substanz.
    Hilfeleistung muss im Rahmen der Möglichkeiten liegen und ist bei mangelnden Möglichkeiten weit von unterlassener Hilfeleistung entfernt.

  18. 80.

    "Selbstverständlich kontariert sowohl (Alltags)Politik als auch tatsächliche Alltagswirklichkeit und Alltagshandeln seit tausenden Jahren fortlaufend diesen Grundsatz der Zivilisation."
    Sie meinen sicher kontakariert. Was Sie da als Rechtslage zum Thema unterlassene Hilfeleistung zusammenfaseln, ist aus dem Zusammenhang gerissen und entbehrt offensichtlich jeglicher Substanz.
    Hilfeleistung muss im Rahmen der Möglichkeiten liegen und ist bei mangelnden Möglichkeiten weit von unterlassener Hilfeleistung entfernt.

  19. 79.

    Befindet sich eine betriebsfremde Person im Gleis dann betätigt der Zugfahrer seinen Kurzschließer. Dann wird überprüft ob der Strom tatsächlich aus ist. Zusätzlich wird in der Regel dann noch ein tragbarer Kurzschließer auf die Stromschiene gesetzt.
    Ist das alles passiert geht das Rettungsteam ins Gleis.
    Im Großprofil ( U 5-9 ) ist es etwas sicherer, da die Stromschiene von oben abdeckt ist.
    Notsignalschalter befinden sich auf jeder Bahnsteigseite drei Stück und zusätzlich kann auch von den SIS Zentralen das Notsignal eingeschaltet werden.
    Früher habe ich als Zugabfertigerin vom Dienstraum aus das Notsignal eingeschaltet, wenn Gefahr im Verzug war.

  20. 78.

    Vielen Dank für den Artikel! Ich habe noch nie auf die Notsignalschalter geachtet und hab vorhin gleich mal mit meinen Kindern geschaut und denen das o.g. Geschehnis erklärt, so dass sie, falls so etwas mal in ihrem Beisein passieren sollte (hoffentlich natürlich nie!), wissen was zu tun ist. Ich weiß es jetzt :)
    Danke!!!

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